Bernhard Jansen S. J.
Die Erkenntnislehre Olivis.
Digitized by the Internet Archive
in 2011 with funding from
University of Toronto
http://www.archive.org/details/dieerkenntnislehOOjans
DIE
ERKENNTNISLEHRE
OLIVIS.
AUF GRUND DER QUELLEN DARGESTELLT
UND GEWÜRDIGT
VON
BERNHARD JANSEN S. J.
BERLIN I92I
FERD. DÜMMLERS VERLAGSBUCHHANDLUNG.
UÜltS
6 3^7
Dem hochverdienten Erforscher
der Geschichte der mittelalteriichen Philosophie,
dem anregenden und hingebenden Lehrer
Clemens Baeumker
in Verehrung und Dankbarkeit.
Yorwort
Gegenwärtige Ausführungen bezwecken zunächst, einen
lange verschollenen Denker in einem neuen Lichte
darzustellen. Auf Grund der Quellen werden die
verschiedenen Linien seiner Erkenntnislehre zu einem Ge-
samtbild vereinigt.
Auf die Darlegung folgt die Stellung zu Vorgängern
und Zeitgenossen und die Einwirkung auf spätere Denker.
Für Olivi kommt vor allem sein Verhältnis zu Augustinus und
zum Augustinismus, besonders zur älteren Franziskanerschule,
in betracht. Umgekehrt bietet seine bald schroff ablehnende,
bald wiederum freundliche Stellung zu Aristoteles und zum
fortschrittlichen Aristotelismus seiner Zeit, namentlich zu
seinem vornehmsten Vertreter, Thomas v. Aquin, vielfache
Beize. Überraschend dürfte den meisten Lesern der empi-
rische Zug in dem bisherigen Charakterbild des kühnen
Metaphysikers und Verteidigers der befremdlichen Infor-
mationslehre sein: wie seine Ordensgenossen Roger Bacon
und John Pecham hat Olivi die Optik Alhazens für seine
Erkenntnislehre dienstbar gemacht. — Was weiterhin seine
Übereinstimmung und seinen Einfluß auf spätere Denker
betrifft, so ist unstreitig seine Colligantia-Lehre von Bedeu-
tung, ihre Einwirkung auf Suarez und die von ihm abhängigen
Philosophen wäre ein näherer Untersuchung würdiger Gegen-
stand. Die Ablehnung jedweder dem Erkenntnisakt voraus-
gehenden Species begegnet uns, soweit wir feststellen können,
im dreizehnten Jahrhundert bei Olivi zum erstenmal und zeigt
ihn damit als Vorläufer der Nominalisten des vierzehnten
Jahrhunderts.
Auf die Darstellung und genetische Erklärung folgt
letztlich die Würdigung. Unser Bemühen ging dahin, eyste-
m
Till Vorwort
matisch und historisch Wertvolles zu unterscheiden. Vor
allem aber wurde das philosophisch Bedeutsame aus dem
umgebenden Beiwerk des Verfehlten herausgehoben.
Dank der Einzelforschung und der auf ihr aufbauenden
Gesamtdarstellung der Scholastik in den letzten Jahrzehnten,
zum Teil auch infolge der erfreulichen Rückkehr der Jetzt-
zeit zum Realismus und zur Metaphysik haben weitere, anders
denkende philosophische Kreise begonnen, eine alte Schuld
abzutragen und auch der mittelalterlichen Geistesarbeit eine
gerechtere Beurteilung zukommen zu lassen. Dem Verfasser
lag es auch bei dieser Gelegenheit daran, ein wenig zum
besseren Verständnis der großen Vorzeit beizutragen. Aus
diesem Bestreben heraus wollen die gelegentlichen Hinweise
auf das Neuzeitliche in Olivis Erkenntnislehre und Denk-
richtung verstanden sein: mehr noch als durch das Inhalt-
liche seiner Ausführungen zeigt er sich durch seine selb-
ständige, energische Inangriffnahme der philosophischen
Erkenntnisfragen und durch seine kritische Stellung zu den
philosophischen Problemen überhaupt dem heutigen Denken
verwandt.
Es ist mir ein Bedürfnis, auch an dieser Stelle dem
hochverehrten P. Franz Ehrle für seine ungezählten liebens-
würdigen Bemühungen, mit denen er seit Jahren meine
Olivi-Forschungen unterstützt hat, den gebührenden Dank
auszusprechen.
Desgleichen habe ich Herrn Professor Martin Grabmann
und P. Franz Polster für mannigfache Anregungen zu danken.
Wenn ich diese Arbeit Herrn Geheimrat Clemens
Baeumker widme, so soll das ein Dankeszeichen sein für
das viele, das ich diesem verdienten Gelehrten und hin-
gebenden Lehrer in philosophiegeschichtlicher Beziehung
persönlich schulde.
Dem hochherzigen, opferwilligen Entgegenkommen des
Verlags verdanke ich die Ermöglichung der Drucklegung
dieser Schrift.
Valkenburg (Holland), Ignatius-Kolleg, Mai 1921.
Bernhard Jansen S. J.
Verzeichnis der wiederholt angeführten Schriften.
(Die nur das ein oder andere mal herbeigezogenen Schriften werden,
in den betreffenden Treten genau angegeben.)
Augustinus, Pseudo-Dionysius und die Scholastiker werden in der
tlblichen Weise, Piaton nach der Stephanus-Einteilung, Aristo-
teles nach der Bekker (Berliner) Ausgabe zitiert,
Alhazen, Thesaurus Opticae, ed. Fr. Risner, Basileae 1672, zusammen
mit Witelo: Item Yitellionis Turingopoloni libri X.
Anecdota quaedam de humanae cognitionis ratione Sancti Bonaven-
turae et nonnullorum ipsius discipulorum edita, Ad aquas claras
(Quaracchi) 1883.
Aquasparta, Matthaeus: Quaestiones disputatae selectae, tom. I. Quae-
stiones de fide et cognitione, Ad aquas claras (Quaracchi) 1908.
Bacon Roger: De multiplicatione specierum zusammen mit der Per-
spectiva (V. Teil des Opus malus), herausgegeben von John
Henry Bridges, 2. vol., Oxford 1897.
Baeumker, Clemens: Beiträge zur Geschichte der Philosophie des
Mittelalters. Texte u. Untersuchungen. (Sammelwerk.) Münster
i. W. — Die einzelnen Bände werden unter dem IS'amen des
betreffenden Verfassers aufgezählt.
— Witelo, ein Philosoph und ^Naturforscher des dreizehnten Jahr-
hunderts, (Beiträge III, 2), 1908.
— Die christliche Philosophie des Mittelalters, in Die Kultur der
Gegenwart, herausgegeben von Paul Hinneberg, I. Teil, V.
Abtlg., 2. Aufl., Leipzig 1913, S. 338—431.
— Festgabe zum 60. Geburtstag, gewidmet von seinen Schülern
und Freunden, (Beiträge Supplementband), 1913.
— Der Piatonismus im Mittelalter, München 1916.
— Roger Bacons Naturphilosophie (Franziskanische Studien, 3. Bd.
fl916J, Münster i. W., S. 1-40, 109-139).
— Die Stellung des Alfred von Sareshel (Alfredus .Anglicus) und
seiner Schrift De motu cordis in der Wissenschaft des beginnen-
den XIII. Jahrhunderts, München 1913.
Literaturverzeichnis
Bardenhewer, Otto, siehe Liber de causis.
Bauer, Hans: Die Psychologie Alhazens, (Beiträge X, 5), 1911.
Baumgartner, Matthias: Die Erkenntnislehre des Wilhelm von Au*
vergne, (Beiträge II, 1), 1893.
— Zur thomistischen Lehre von den ersten Prinzipien der Er-
kenntnis, in V. Hertling-Festschrift, S. 1 — 17.
— Zum thomistischen Wahrheitsbegriff, in Baeumker-Eestschrift,
(Beiträge Supplemeniband), S. 241—261. — Siehe Ueberweg.
Baur, Ludwig: Die Philosophie des Robert Grosseteste, (Beiträge
XVIII, 4—6), 1917. — Siehe Grosseteste.
Bonaventura, siehe Anecdota.
Chatelain, lllmile, siehe Denifle.
Correctorium, siehe Wilhelm de la Mare.
Daniels, Augustin: Anselm-Zitate bei dem Oxforder Franziskaner Boger
von Marston (Theol. Quartal schrift, Tübingen, 93. Bd. [1911],
S. 35-59.)
Denifle, Heinrich, und Chatelain, Emile: Chartularium Universitatis
Parisiensis, t. I, Paris 1889. — Siehe Ehrle.
Dictionnaire de theologie catholique, herausgegeben von A. Vacant
u. E. Mangenot, Paris 1903 if. — Siehe Mandonnet u. Portali6.
Dietrich v. Ereiberg, siehe Krebs und Würschmidt.
Dreiling, Raymundus: Der Konzeptualismus in der Universalienlehre
des Franziskanerbischofs Petrus Aureoli, (Beiträge XI, 6), 1913.
Ehrle, Franz: Archiv fdr Litteratur- und Kirchengeschichte des Mittel-
altere, herausgegeben zusammen mit Heinrich Denifle, Berlin,
3. Bd. (1887), Petrus Joh. Olivi, sein Leben und seine Schriften,
• S. 409—558; 5. Band (1889), Beiträge zur Geschichte der mittel-
alterlichen Scholastik, S. 603—635.
— Das Studium der Handschriften der mittelalterlichen Scholastik
(Zeitschr. f. kath. Theologie, Innsbruck, 7. Bd. [1883], S. 1—51).
— Zur Geschichte der Scholastik im 13. Jahrhundert. (Ebenda,
13. Bd [18891, S. 172-193).
— Der Kampf um die Lehre des hl. Thomas von Aquin in den
ersten fünfzig Jahren nach seinem Tod (Ebenda, 37. Bd. [1913],
S. 266-318).
Eisler, Rudolf, siehe de Wulf.
Fischer, Joseph: Die Erkenntnislehre Anselms von Canterbnry, (Bei-
träge X, 3), 1911.
Frick, Karl, siehe Posch.
Fröbes, Joseph: Aus der Vorgeschichte der psychologischen Optik, in
Zeitschrift für Psychologie, Leipzig, 85. Bd. (1920).
Literaturverzeichnis XT
QauI, Leopold: Alberta des Großen Verhältnis zu Plato, (Beiträge
XII, 1), 1914.
öeyser, Joseph : Die Erkenntnistheorie des Aristoteles, Münster i. W.
1917.
— Grundlegung der Logik u. Erkenntnistheorie, Mtlnster i. W. 1919.
Orabraann, Martin: Die philosophische und theologische Erkenntnis-
lehre des Kardinals Matthäus von Aquasparta, Wien 1906.
— Die Disputationes raetaphysicae des Franz Suarez in ihrer me-
thodischen Eigenart und FortTvirkung, in P. Franz Suarez S. J.
Gedenkblätter zu seinem 300jährigen Todestag, Innsbruck 1917.
Guttmann, Jacob: Die philosophischen Lehren des Isaak ben Salomon
Israeli, (Beiträge X, 4), 1911.
Grosseteste, Robert: Die philosophischen Werke. Zum ersten Male
vollständig in kritischer Ausgabe von LudTvig Baur, (Beiträge
IX), 1912.
Heinrich von Gent, siehe de Wulf.
V. Hertling, Georg: Augustinus-Zitate bei Thomas v. Aquin, München
1904.
— Wissenschaftliche Richtungen und philosophische Probleme im
13. Jahrhundert, München 1910.
— Festgabe zum 70. Geburtstag, gewidmet von seinen Schülern
und Yerehrern, Freiburg i. Br. 1913.
Horten, Max: Das Buch der Ringsteine Färäbis, (Beiträge V, 3), 1906.
Höver, Hugo: Roger Bacons Hylomorphismus, Limburg a. Lahn 1912.
^u8serl, Edmund: Logische Untersuchungen, 2 Bde., Halle a. Saale,
1. Aufl. 1900/1901, 2. Aufl. 1913.
Jansen, Bernhard : Die handschriftliche Überlieferung der spekulativen
Schriften Olivis (Philos. Jahrbuch, Fulda, 31. Bd. [1918], S. 141
-164).
— Ein neuzeitlicher Anwalt der menschlichen Freiheit aus dem
13. Jahrhundert: Petrus Joh. Olivi (Ebenda, S. 230—238, 382
—408).
— Olivi der älteste scholastische Vertreter des heutigen Bewegungs-
begriffs (Ebenda, 33. Bd. [1920], S. 137—152).
— Die Lehre Olivis über das Verhältnis von Leib und Seele
(Franziskanische Studien, Münster i. W., 5. Bd. [1918], S. 153
—175, 233-258).
— Petrus Johannis Olivi. Ein lange verschollener Denker (Stim-
men der Zeit, Freiburg i. Br., 96. Band [1918], S. 105—118).
— Quonam spectet definitio Concilii Viennensis de anima (Grego-
rianum, Roma, I [1920], p. 78—90).
— Leibniz, erkenntnistheoretischer Realist, Berlin 1920.
Kleutgen, Joseph: Die Philosophie der Vorzeit, 2 Bde., 2. Aufl., Inns-
bruck 1878.
XII Literaturverzeichnis
Krebs, Engelbert: Meister Dietrich, Sein Leben, seine Werke, seine^
Wissenschaft, (Beiträge V, 5—6), 1906.
Kugler, Lothar: Der Begriff der Erkenntnis bei Wilhelm t. Ockham,^
Breslau 1913.
Lappe, Joseph: IN'icolaus von Autrecourt. Sein Leben, seine Philo-
sophie, seine Schriften, (Beiträge VI, 2), 1908.
Liber de causis (Die pseudo-aristotelische Schrift Über das reine Gute),
bearbeitet von Otto Bardenhewer, Freiburg i. Br., 1882.
Lutz, Eduard: Die Psychologie Bonaventuras, (Beiträge YI, 4 — 5), 1909.
Mandonnet, Pierre: Siger de Brabant et l'averroisme latin, 2 parties^
2. ed , Louvain 1911.
— Fräres-Pröcheurs, in Dictionnaire de th6ologie catholiqne, heraus-
gegeben von A. Vacant und E. Mangenot, Paris 1920.
Minges, Parthenius: Skotistisches bei Richard von Media villa (TheoL
Quartalsschrift, Tübingen, 99. Bd. [1917], S. 60—79).
Pecham, Johannes: Quaestiones tractantes de anima, ed. Hieron jmus
Spettmann, (Beiträge XIX, 5—6), 1918.
Posch, Tilmannus — Frick, Carolus: Institutiones Logicae et Ontologicae,
2. ed., t. 1, Friburgi Br. 1914.
Kisner, Fr., siehe Alhazen.
Siebeck, Hermann: Geschichte der Psychologie, Gotha 1880/1884.
Schneider, Arthur: Die Psychologie Alberts des Großen, 2 Teile, (Bei-
träge IV, 5-6), 1903/1906.
Spettmann, Hieronyraus: Die Psychologie des Johannes Pecham, (Bei-
träge XX. 6), 1919. — Siehe Pecham.
Stockt, Albert: Geschichte der Philosophie des Mittelalters, 1. Bd.,
Periode der Entstehung und allmählichen Ausbildung der Scho-
lastik, Mainz 1864; 2. Bd., Periode der Herrschaft der Scho-
lastik, Mainz 1865.
Ueberweg, Friedrich: Grundriß der Geschichte der Philosophie der
patristischen und scholastischen Zeit (2. Bd.), vollständig neu
bearbeitet und stark vermehrt von Matthias Baumgartner,
10. Aufl., Berlin 1915.
Werner, Karl: Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne, Wien 1873.
Wilhelm de la Mare: Oorrectorium fr. Thomae, zusammen mit dem
Defensorium seu Oorrectorium . . . Aegidii Bomani, Venetiis 1516.
Witelo (Vitellio), siehe Alhazen.
Würsdorfer, Joseph : Erkennen und Wissen nach Gregor von Bimini,
(Beiträge XX, 1), 1917.
LiteraturTerzeichnis XIII
Würschmidt, Joseph: Dietrich von Freiberg über den Begenbogen
und die durch Strahlen erzeugten Bindrücke, (Beiträge XII,
5-6), 1914.
de Wulf, Maurice: Histoire de la philosophie medievale, 4. 6d., Louvain
und Paris 1912; deutsch von Rudolf Eisler, Tübingen 1913.
— ifitudes sur Henri de Gand, Louvain und Paris 1894.
Zeller, Eduard: Die Philosophie der Griechen, 2. Teil, 1. Abtlg.,
3. Aufl., Leipzig 1875; 2. Teil, 2. Abtlg., 3. Aufl., Leipzig 1879.
Zigliara, Thomas Maria: De mente Concilii Yiennensis, Roma 1878.
Zisch6, Karl: Die Lehre von Materie und Form bei Bonaventura
(Philos. Jahrbuch, Fulda, 13. Bd. [1900], S. 1—21.)
— Die ISTaturlehre Bonaventuras (Ebenda, 21. Bd. [1908], 8.56—89,
156—189).
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Vorwort VII
Literaturverzeichnis IX
Inhaltsverzeichnis XV
1. Kapitel: Die scholastische Erkenntnislehre des dreizehnten
Jahrhunderts 1
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
Die philosophische Eigenart Olivis 10
Die literarische Überlieferung seiner Erkenntnislehre 21
Die Grundlinien seiner Psychologie 32
Der Begriff der Erkenntnis und der Wahrheit 4!
Die Stellung des Objektes im Erkenntnisvorgang . 49
Die Verwerfung der Species 64
Das virtuelle Berühren des Gegenstandes 72
Die CoUigantia der Seelenkräfte 76
Das sinnliche Erkennen 91
Der Verlauf des geistigen Erkennens 98
Die Selbsterkenntnis der Seele 112
Abschließende Würdigung 117
Personenverzeichnis
123
1. Kapitel.
Die scholastische Erkenntnislehre des dreizehnten
Jahrhunderts.
Die Eigenart und Entwicklung der Philosophie des drei-
zehnten Jahrhunderts ist dank der Spezialforschungen der
letzten Jahrzehnte immer deutlicher und schärfer vor uns
getreten. Die besondere Note erhalten die einzelnen Denker
und Schulen dieser Zeit durch ihre Stellung zum herge-
brachten Augustinismus und zum immer mehr vordringen-
den Aristotelismus ^). Gemäß den allgemeinen Gesetzen jeder
organischen Entwicklung des Geisteslebens und entsprechend
der bedächtigen, konservativen Art der Scholastik zeigt sich
dieser Werdegang als ein seit langem vorbereiteter. Ein cha-
rakteristischer Zug in diesem Prozeß ist das Bestreben, das
Neue harmonisch mit dem Alten auszugleichen, auch auf
die Gefahr hin, daß der neue Wein die veralteten Schläuche
zu zerreißen droht. Abgesehen von der konkordistischen
Denkart und dem Mangel an historischer Kritik des Mittel-
alters ist dieses Bemühen in der großen Achtung begründet,
die jene Zeit der wissenschaftlichen Autorität entgegenbrachte.
Speziell duldete es das alles überragende Ansehen des gro-
ßen Augustinus nicht, daß man offen von seinen Ansichten
abwich und dieses noch gar auszusprechen wagte. Daher
der merkwürdige Ausgleich versuch, der unser modernes syste-
matisches Denken ebenso befremdet wie unser geschieht-
1) Vgl. Ueberweg-Baumgartner, Grundriß der Geschichte der
Philosophie, besonders §§ 35—40; de Wulf, Histoire de la philos. m6di6v.,
besonders pp. 316 — 466, übersetzt Ton Eisler, S. 257 ff. ; Ehrle, Archiv,
Bd. Y S. 603 ff. u. Zeitschrift f. kath. Theologie, Bd. 13 S. 172 ff.,
Bd. 37 S. 266-318.
1
2 1. Kapitel
liches : Augustinus mit Aristoteles in Einklang zu bringen *).
Daher zweitens der lange und scharf geführte Kampf der
verschiedenen philosophischen Richtungen um die Vorherr-
schaft des einen oder des andern 2).
Augustinismus ^) und Aristotelismus besagen indes trotz
aller Schätzung der wissenschaftlichen Autorität kein Auf-
geben persönlicher Eigenart, individuellen, kritischen Weiter-
denkens und Aufsteilens selbständiger Theorien*). In vielen
Fragen bedeutet, um von andern Denkern zu schweigen,
Thomas v. Aquin einen ganz bedeutenden Fortschritt über
Piaton, Aristoteles und Augustinus hinaus. Scholastiker wie
Roger Bacon, Gottfried v. Fontaines und Scotus verraten
eine stark persönliche Eigenart.
Im Mittelpunkt der philosophischen Diskussion stand
neben der Einheit bzw. Mehrheit der Formen in den Lebe-
wesen und der Deutung der Stoisch-augustinischen Keim-
kräfte bzw. der Aristotelischen Materie ^) die Erkenntnislehre.
1) V. Hertling, Augustinus-Zitate bei Thomas v. Aquin ; S. Thomas,
S. th., I q. 84. a. 5.
2) Den lebhaftesten Ausdruck findet dieser Kampf in der sog.
Korrektorienliteratur : W. de la Mare, Correctorium fr. Thomae, worin
zugleich das Correctorium Oorruptorii fr. Thomae d.h. die Widerlegung
des W. de la Mare abgedruckt ist ; vgl. Ehrle, Der Kampf um die Lehre
des hl. Thomas v. Aquin (Zeitschr. f. kath. Theol., Bd. 37 S. 266-318).
^3) Die frühere Darstellung der Scholastik hat die Bedeutung der
Platonisch-augustinischen Gedankenmotive für die Hochscholastik zu
wenig berücksichtigt oder auch unterschätzt; anders die neueste For-
schung, vor allem ist es das Verdienst Baeumkers, diese scharf her-
ausgearbeitet zu haben; A'gl. dessen Witelo und Der Piatonismus im
Mittelalter, ferner Gaul, Alberts des Gr. Verhältnis zu Plato.
4) Baeiiraker, Die christliche Philosophie des Mittelalters; der-
selbe, Die Stellung des Alfred von Sareshel, S. 3ff. ; ebenso Ueberweg-
ßaumgartner, S. 198 ff.
5) Vgl. Correctorium, art. 31 f. 18 sq. ; Ehrle, Archiv, Bd. V S. 603 ff. ;
vgl. die Bonaventura-Ausgabe zu Sent., II dist. III p. I art. Iq 1 3;
Zischö, Die Lehre von Materie und Form bei Bonaventura; derselbe,
Die T^aturlehre Bonaventuras ; Mandonnet, Siger de Brabant, 1. partie
p. 107. 129, 214 sqq. : Schneider, Die Psychologie Alberts d. Gr., S. 39 ff.;
Höver, Koger Bacons Hylomorphismus ; Baeumker, Roger Bacons Na-
turphilosophie; Jansen. Die Lehre Olivis über das Verhältnis von
Leib und Seele.
Die scholastische Erkenntnislehre des dreizehnten Jahrhunderts 3
Freilich darf man dabei nicht an modern gehaltene kritische
Untersuchungen über die Geltung unserer Vorstellungen,
tlber das Ding an sich, die Möglichkeit der Metaphysik, die
Existenz der Außenwelt denken. Diese liegen der vorwiegend
dogmatisch-metaphysischen Denkrichtung jener Zeit im all-
gemeinen fern, wenngleich sich bereits im dreizehnten Jahr-
hundert Ansätze zu erkenntnistheoretischen Betrachtungen
finden und vollends im Nominalismus der spätem Scholastik,
etwa bei Wilhelm von Occam und Nikolaus von Autrecourt,
Untersuchungen zutage treten, die an Hume und andere
neuzeitliche Kritiker erinnern ^).
Es ist vielmehr die psychologische Seite, die Untersuch-
ung über den Ursprung des Erkennens, insbesondere des
höheren, welche die Geister jahrzehntelang in Spannung
hält und hart aufeinander stoßen läßt. Naturgemäß geht
diese Frage, gerade wie in der neueren Philosophie, ins Meta-
physische über. Von der Lebhaftigkeit des wissenschaftlichen
Interesses an diesen Erkenntnisfragen geben u. a. die von
Bischof Templer 1277 verurteilten 219 Thesen ein anschau-
liches Bild 2). Auch die vielfache Beschäftigung des hl. Thomas
mit Fragen der Erkenntnislehre in den beiden Summen und
den Quaestiones disputatae de veritate zeigt die damalige
Aktualität derselben^).
Ihre eigentümlichste Zuspitzung und feinste Prägung
fand diese wissenschaftliche Kontroverse in der Stellung-
nahme zu dem theologischen Apriorismus Augustins: bedarf
der menschliche Geist zum Erfassen der höheren Wahrheiten
der Einstrahlung eines besonderen göttlichen Lichtes, oder
erkennt er sie, wie die Aristoteliker wollen, in Anleh-
1) TJeberweg-Baumgartner, §§45, 46; Baeumker, Die christliche
Philosophie des Mittelalters, n. VII; Dreiling, Der Konzeptualismus
des Aurooli; Lappe, Nicolaus v. Autrecourt.
2) In Denifle-Chatelain, Chart. Univ. Paris, I p. 543 sq. u. Man-
donnet, Siger de Brabant, 2. partie p. 175 sqq.
3) Wenn von den in der Sammlung Baeumker (Beiträge z. Gesch.
d. Phil, des Mittelalters) erschienenen Monographien auffallend viele
Probleme der Erkenntnis behandeln, so zeigt auch diese gewiß nicht
zufällige Erscheinung, wie stark das Interesse der Hochscholastik ftlr
diese philosophische Disziplin war.
4 1. Kapitel
nung an die sinnliche Erfahrung durch eigene Kraft? John
Pecham berichtet uns mit temperamentvollen Worten von der
Heftigkeit, mit der der Kampf um diesen umstrittenen Lehr-
punkt geftlhrt wurde ^). In der Tat durchzieht die Frage
nach dem Ursprung der übersinnlichen Erkenntnisse wie kaum
irgend eine andere die gesamte Geschichte der Philosophie :
von Piaton und Aristoteles angefangen, kehrt sie in den
verschiedensten, vielfach zeitgeschichtlich bedingten Formen
auch in der Neuzeit unter der Benennung Rationalismus,
Empirismus, Kritizismus wieder.
Im dreizehnten Jahrhundert nimmt die geschichtliche
Entwicklung ungefähr folgenden Verlauf: die Vertreter des
sog. Augustinismus aus dem Weltklerus, der älteren Franzis-
kaner- und Dominikanerschule halten an der tiberlieferten
Auffassung fest, wie sie sich im zwölften Jahrhundert etwa
bei Anselm findet 2). In diese ursprtlngliche Augustinische
Passung dringen mehr und mehr spezifisch Aristote-
lische Elemente ein. Ohne daß man sich des ganzen,
unvereinbaren Gegensatzes bewußt wird, setzt man beide
Gedankenreihen friedlich neben einander. Vertreter dieser
Vermittlungsversuche ist z. B. Bonaventura-^). Eine eigen-
tümliche Erscheinung dabei ist, daß man die Augustinische
höhere Einstrahlung oder Gott als Intellectus agens bezeichnete,
so vor allem in der älteren Franziskanerschule*), die indes
1) C. T. Martin, Registram epistolarum Fr. J. Peckham, 3 voll.,
London 1882—85, besonders im 3. Bd. S. 840 ff. ; Ehrle, Zeitschr. f. kath.
Theologie, Bd. 13 S. 172ff. ; v. Hertling, Augustinus-Zitate, S. 556ff.,
583 ff., 586 ff. ; derselbe, Wissenschaft!. Richtungen u. philos. Pro-
bleme im 13. Jahrb., München 1910, abgedruckt in v. Hertling, Histo-
rische Beiträge zur Philosophie, Kempten und München 1914 ; De
humanae cognitionis ratione anecdota qiiaedam ; de Wulf, Etudes sur
Henri de öand, p. 119sqq. ; Grabmann, Die Erkenntnislehre des
Kardinals Matth. v. Aquasparta. S, 55 — 73: Baumgartner, Die Er-
kenntnislehre des Wilhelm v. Auvergne, S 40ff.
2) Fischer, Die Erkenntnislehre Anselms v. Canterbury.
3) Lutz, Die Psychologie Bonaventuras ; Ueberweg-Baumgartner,
S. 443 ff.; in etwa ist auch Wilhelm von Auvergne ein solcher Ver-
treter, vgl. tiber ihn Baumgartner, Die Erkenntnislehre des W. v. A.
4) Bekanntlich hat sich Renan dadurch irrtümlicher Weise ver-
Die scholastische Erkenntnislehre des dreizehnten Jahrhunderts 5
mehr und mehr, wie vor allem die jüngsten Forschungen
gezeigt haben, zum fortschrittlichen Scotus hindrängte. ^)
Zum vollen Sieg führte die von der Erfahrung aus-
gehende Aristotelische Erkenntnislehre durch die Vermittlung
Alberts d. Gr, ^) bei Thomas v. Aquin. Nirgends vielleicht
auf philosophischem Gebiet offenbart sich sein Talent zu
systematisieren so glänzend und seine Bevorzugung des
Stagiriten vor Augustinus so ausdrucksvoll als in seiner
Erkenntnislehre. Mit der Aristotelischen Auffassung, wonach
das geistige Erkennen durch Abstraktion aus der Erfahrung
gewonnen wird, verbindet er das Grundmotiv der Platonisch-
augustinischen Ideenlehre ^), die letztlich zu den Gott imma-
nenten vorbildlichen Gedanken hinführt und aus ihnen die
geschöpf liehe Wahrheit und Wirklichkeit ableitet. Diese
geniale Synthese des Aquinaten siegte in der Folgezeit über
den traditionellen Augustinismus, der nur mehr von ver-
einzelten Denkern, wie Heinrich v. Gent, gehalten wurde.
Neben diesen beiden Grundrichtungen des Augustinis-
mus und Aristotelismus in der Erkenntnislehre geht eine
starke ünterströmung einher: es ist eine eigenartige Ver-
bindung von Neuplatonismus und Empirismus.*) Beim ersten
leiten lassen, von einem Averroismus bei den Franziskanern zu sprechen ;
vgl. O. Reicher, Zur Lehre der ältesten Franziskanertheologen vom
„intellectus agens", in v. Hertling-Festschrift, S. 173 ff. ; derselbe, Der
Intellectus agens bei Roger Baco, in Baeumker-Festschrift, S. 297 ff. ;
über Roger Bacon vgl. Ueberweg-Baumgartner, S. 567 f.
1) Vgl. die ausführliche I^ote im 3. Kap. S. 27.
2) Daß Albert wie in dem Granzen seiner Philosophie so auch in
der Erkenntnislehre keinen reinen Aristotelismus vertritt, sondern
auch — und zwar unausgeglichen zu ihm — Platonische bzw. Neu-
platonische Elemente herüber genommen hat, haben besonders die neueren
Forschungen gezeigt : Schneider, Die Psychologie Albert des Gr. ;
Gaul, Alberts d. Gr. Verhältnis zu Plato.
3) S. th., I q. 84 — 88 ; Baumgartner, Zum thomistischen Wahrheits-
begriff, in Baeumker-Festschrift; derselbe. Zur thomistischen Lehre von
den ersten Prinzipien der Erkenntnis, in v. Hertling-Festschrift; Man-
donnet, in Dictionnaire de theol. cathol. unter Fröres-Precheurs ; Grab-
mann, Thomas v. Aquin, Kempten und München 4. Aufl. 1920; Jansen,
Die wissenschaftl. Eigenart des Aquinaten, in Stimmen der Zeit, Bd. 98.
(1920) S. 453 f.
4) Ueberweg-Baumgartner, § 43.
6 1. Kapitel
Anblick möchte die Verbindung von Emanation und höherer
Einstrahlung mit mathematisch exaktem Denken und ausge-
prägtem Sinn für die Erfahrung überraschen. Und doch
findet sich ein verwandter Zug bereits bei Piaton ^) und
später in der platonisierenden Schule von Chartres im
zwölften Jahrhundert^), desgleichen bei den Arabern.
Als Eigentümlichkeit dieser neuen Platonischen Rich-
tung ist zunächst die sog. Lichtmetaphysik ^) anzusehen.
Das Licht, das sich durch das ganze Universum, womöglich
nach mathematisch bestimmbaren Gesetzen, ergießt, ist das
erste, vornehmste, alles Leben bedingende Erzeugnis der
göttlichen Tätigkeit. Von der größten Bedeutung ist es für
das Zustandekommen der Erkenntnis. Weiterhin wird die
stufenförmige Emanation der Einzelordnungen des Endlichen
aus dem Unendlichen vertreten, wie sie den Arabern eigen
war. Die höheren Stufen derintelligenzen erleuchten die nie-
deren, wie esu. a.Pseudo-Dionjsius*) und der Liber de causis^)
lehren. Der empirische Zug kommt vor allem in der Optik
zum Ausdruck. Aus Alhazens Thesaurus Opticae ^), dessen Aus-
führungen in vieler Beziehung die Ergebnisse der modernen
1) Politeia, 522 sqq.
2) Ueberweg-Baumgartner, § 30; Baeuraker, Der Platoniamus im
Mittelalter, S. 11 ff.
3) Sie findet sich u. a. bei Grosseteste (vgl. Baur. Die Philo-
sophie des Robert Grrosseteste ; derselbe, Das Licht in der I^atur-
Philosophie des Robert Grrosseteste, in v. Hertling-Festschrift, S. 41 — 57),
Bonaventura, Albert d. Gr. u. Witelo (Baeumker, Witelo, S. 394 ff.),
auch bei Roger Bacon; Baeuraker hat das Verdienst (besonders in
Witelo. S. 357 ff.), dem geschichtlichen Ursprung und Verlauf dieser
Lichtmetaphysik in eindringenden Untersuchungen nachgegangen zu
sein, siehe auch Baeumker, Der Piatonismus im Mittelalter ; Baur (a.a.O.)
brachte vielfache Ergänzungen ; Grabmann, Der Neuplatonismus in
der deutschen Hochscholastik (Phil. Jahrbuch, Bd. XXIII (1910) S.
38—54); Gaul, Alberts des Großen Verhältnis zu Plato; Schneider,
Die Psychologie Alberts d. Gr.
4) De coelesti hierarchia, cap. II §2,3; cap. VII § 3,4; cap. VIII
§ 1 2; cap. X § 1, 2.
5) § 1, 3, 4, S. 163 ff.
6) Herausgeg. von Fr. Risner, Basileae 1572, zusammen mit Wi-
telo : Item Vitellionis Turingopoloni libri X.
Die scholastische Erkenntnislehre des dreizehnten Jahrhunderts 7
experimentellen Psychologie des Sehens vorweggenommen
haben*), haben vor allem örosseteste 2), Pecham^), Witelo*),
Roger Bacon^) und Dietrich von Freiberg 6) geschöpft.
Neben der prinzipiell so bedeutsamen Untersuchung
über den Ursprung der höheren Erkenntnis waren es noch
manch andere Einzelfragen der Erkenntnislehre, die im
Anschluß daran gestellt wurden und, ebenso wie jene, zu
lebhaften Auseinandersetzungen führten. Vor allem gilt dies
von der Erkenntnis der Einzelobjekte oder des Individuellen.
Thomas v. Aquin und seine Schule lehrten folgerichtig zu
den metaphysischen, logischen und psychologischen An-
schauungen des Aristoteles '), daß der abstrahierende Ver-
stand zuerst einen Allgemeinbegriff, das Verbum mentis,
bilde und erst nachträglich durch Hinwendung zum Sin-
nenbild und in ihm das konkrete sinnfällige Einzelobjekt
erkenne^). Diese Theorie widersprach der Erkenntnislehre
des bislang herrschenden Augustinismus und wurde darum
von den zeitgenössischen Vertretern desselben, so nament-
lich von den Franziskanern, wie Wilhelm de la Mare^) und
1 ) Vgl. Bauer, Die Psychologie Alhazens ; Fröbes, Aus der Vor-
geschichte.
2) De lineis, angulis et figuris, De natura locorum. De iride, De
colore (ed. Baur, Die Philosophischen Werke des Grosseteste); vgl
Baur, Die Philosophie des Grosseteste.
3) Perspectiva communis^ Mediolani — ohne Zeitangabe — , Vene-
tiis 1504, 1593; über seine Psychologie vgl. Spettmann.
4) Baeumker, Witelo; Fröbes, Aus der \rorgeschichte.
5) De multiplicatione specierum u. Perspectiva (5. Teil des Opus
malus).
6) De iride et radialibus impressionibus. De luce et eius origine;
vgl. Krebs, Meister Dietrich ; Würschmidt, Dietrich von Freiberg
Über den Regenbogen.
7) Vgl. Metaph., VII. Buch; De anima, III. Buch 4 ff. Kap.;
Geyser, Die Erkenntnistheorie des Aristoteles, z. B. S. 74 ff., 200.,
235 ff., 278 ff.
8) S. th., I q.84 a. 6, 7; q. 85 a. 1— 3; q. 86 a. 1 ; De verit., q. X
a. 4 — 6; speziell über das Verbum mentis vgl. S. contra Gent., I 53;
II 74 ; De potentia, q. 9 a. 5 ; vgl. die beiden Artikel von Baamgartner ;
M. Gloßner, Das Prinzip der Individuation nach der Lehredes hl. Thomas,
Paderborn 1887.
9) Correctorium, art. 2 f . 4 ; art. 10 f. 48.
8 1. Kapitel
Aquasparta *), entweder bestritten oder doch fallen gelassen.
Auch Scotus stimmt in diesem Punkt mit der älteren Pran-
ziskanerschule tiberein *).
Weiterhin stand die Untersuchung, ob die menschliche
Seele ihr Wesen und ihre Substanz unmittelbar erkenne,
also gewissermaßen schaue, oder sie nur indirekt durch Ver-
mittlung ihrer Akte erfasse, im Vordergrund der Geistes-
kämpfe. An der Lehre des hl. Augustin, der an vielen
Stellen ein intuitives Erfassen der Seelensubstanz gelehrt
hatte ^), hielten seine Anhänger getreu fest*) während die
von der Erfahrung ausgehenden Aristoteliker, namentlich der
hl. Tomas ^), behaupteten, daß der menschliche Verstand erst
aus der Natur der Akte durch schlußfolgerndes Denken zur
Erkenntnis der Einfachheit. Geistigkeit, Unsterblichkeit und
der anderen Eigenschaften der Seelensubstanz fortschreiten
könne.
1) Quaest. disp., q. 4; Grabmann, S. 85 ff.
2) De rerum principio, q. 13 a. 3 n. 28—33. Daß die Nominalisten,
nach denen es nur Einzelnes gibt, die unmittelbare Erkenntnis des
Individuellen hervorheben, ist klar; Durandus, Sent., II d. 3 q. 7,
12; Sent., I d. 3 q. 5,28; Occam, Sent., I d. 3 q. 2 F.; Sent., Prol. q.
1 H. Z. ; Quodlib., I q. 14: Aureolus, Sent., dist. XXXY pars 4 art. 1;
Gregor v. Rimini, Sent., I d. 3 q. 3 a. 2: vgl. über ihn Würsdörfer,
Erkennen und Wissen nach Gregor v. Rimini.
3) De Trin., VIII 4; IX 3, 6, 11, 12; XIY 6, 15; cfr. librum XI,
XV ; De lib. arb., II 10.
4) Anseimus, Monologium, cap. 33: die Stelle wird von Olivi
zitiert ; über Anselm siehe Fischer, Die Erkenntnislehre Anselms,
S. 30 f. Wilhelm v. Auvergne bei Werner, Die Psychologie des
W. V. A., S. 265. Heinrich v. Gent, Quodl., IV 7; V 15, 26; VIII 13;
über ihn de Wulf, ^fitudes sur Henri de Gand, p. 1 17 sq. Matth. v. Aqua-
sparta, Quaest. disp., q. 5; über ihn Grabmann, S. 92 ff. Richard de
Mediavilla, Sent., II. dist. 24 art. 3 quaest. 4; Quodlib., II q. 19; über
ihn Minges, Skotistisches, S. 269 f. Roger Marston, II Quaest. 2, bei
Daniels, AnselmzLtate bei Roger von Marston, S. 47. Correct., art.
37 f. 23. Scotus, De rerum principio, q. 15, n. 26.
5) S. th., q. 87 a. 1, 2: De veritate, q. 10 a. 8, 9; vgl. Kleutgen,
Die Philosophie der Vorzeit, 1 Bd. S. 168ff. ; Scotus, der weder ein
so reiner Aristoteliker wie Thomas noch ein so entschiedener Anhänger
Augustins wie die älteren Franziskaner ist, läßt die Frage ziemlich
offen bezw. schwankt: De rerum principio, q. 15; Sent., I dist. 3 q. 8;
Quodlib., 14.
Die scholastische Erkenntnislehre des dreizehnten Jahrhunderts 9
Weitere psychologische Fragestellungen, wie die über
die Sinnesakte, ob sie einfach oder ausgedehnt sind, ob
das Gehirn oder das Herz das Zentralorgan der Empfindung
ist, in welchem Verhältnis die inneren Sinne zu den äußeren
stehen, welches ihre Zahl und reelle Verschiedenheit ist,
mögen hier noch erwähnt werden, um damit das Bild von
dem Entwicklungsverlauf der Erkenntnislehre des dreizehnten
Jahrhunderts abzuschließen. Die nun folgenden Darlegungen
werden zeigen, an welcher Stelle Olivis Ausführungen ihren
Platz zu finden haben.
2. Kapitel.
Die philosophische Eigenart Olivis.
Petrus Johannis Olivi, 1248 oder 1249 in Südfrankreich
geboren und 1298 daselbst gestorben, war schon früher als
der entschiedene Vorkämpfer der Armutsidee des hl. Franz v.
Assissi vom Usus pauper und als der temperamentvolle Führer
der Spiritualen des Franziskanerordens bekannt. Auch von
der Verurteilung seiner eigenartigen Seeionlehre durch das
Vienner Konzil (1312) wußte die Kirchengeschichte zu be-
richten ^). Daß er aber auch ein bedeutender spekulativer
Kopf gewesen sei, war völlig in Vergessenheit geraten^ wenn-
gleich Wadding-Sbaralea^) eine lange Liste philosophischer
und theologischer Schriften aufzuzählen wußten. Allzu leicht
ist diese Vergessenh<*it begreiflich, nachdem der Orden
den lästigen, stürmischen Reformer jahrelang beargwöhnt
und schließlich zur kirchlichen Verurteilung geführt hatte,
nachdem seine Anhänger jahrzehntelang in härtester Weise
behandelt und seine eigenen Schriften eingezogen, ver-
boten oder gar verbrannt waren.
Erst der um die Erforschung der Frühgeschichte des
Franziskanerordens hochverdiente P. Ehrle hat Olivi und
seine Wissenschaft der ungerechten Vergessenheit entrissen ^j.
Er fand außer sieben Handschriften — zwei von ihnen hatte
1) Denzin^er- Bann wart, Bnchiridion symbolorum, 13. ed. Friburgi
Br. 192J, n. 480 sq.; J. Hergenröther — J. P. Kirsch, Handbuch der all-
gemeinei) Kirchengeschichte, 5 Aufl., Preiburg Br. 1913, 2. Bd. S. 704;
1915, 3. Bd. S, 321.
2) Waddinc:-Sbaralea, Scriptores Ordinis Minorum, Bomae 1806.
3) Archiv, TU S. 409—553.
Die philosophische Eigenart Olivis 11
bereits Fidelis von Fanna entdeckt i) — , die philosophische
Abhandlungen Olivis enthielten, vor allem im Codex Vati-
canus Latinus 1116 die endgültige Redaktion der philo-
sophischen Lebensarbeit Olivis. Schreiber dieses hat nach-
zuweisen versucht^), daß er hier seine verschiedenen frü-
heren Artikel nach Art eines Sentenzenkommentars in freier
Bearbeitung letztlich zusammengestellt hat. Von den 118
Quästionen behandeln die ersten 31 allgemein metaphysische
Fragen über Schöpfung, Unendliches, Essenz und Existenz,
Individuation, Universalien, Personbegriff, Materie und Form,
Aktivität, Bewegung, Keimkräfte. Es folgt in den Quästionen
32 — 48 die Engellehre. Die Fragen 49 — 89 sind psycho-
logischen Untersuchungen gewidmet; hier finden sich die
Olivi eigentümlichen Auffassungen über das Verhältnis von
Leib und Seele und die Mehrheit der Formen; ferner wird
hier das Wollen und Erkennen erörtert. Den Schluß von
90 — 118 füllen ethische Abhandlungen aus.
In einer zehnjährigen Beschäftigung mit dem Lehrinhalt
des Vat. Lat. 1116 verdichteten sich mir die Einzelbeobach-
tungen und Einzeleindrücke zu folgendem abschließenden
Bild der philosophischen Eigenart Olivis. Als seine Lehrer
erwähnt er ein oder das andere mal Männer, die der
Augustinischen Richtung angehörten^); offenbar sind damit
Vertreter der älteren Franziskaner schule gemeint, so nennt
er ausdrücklich Alexander und Bonaventura. Sein eigent-
licher Führer in der Spekulation ist darum auch Augustinus,
mit dessen Schriften und Lehrmeinungen er wohl vertraut
ist, den er immer und immer wieder zitiert, dessen Autorität
ihm höher als die aller andern steht, von dem er freilich auch
in mehreren wichtigen Stücken abweicht und dessen Erklä-
rung der sinnlichen Erkenntnis er sogar scharf bekämpft.
Auch in den Schriften und den Ansichten des Aristo-
teles kennt er sich im allgemeinen gut aus, wenngleich er
1) Zigliara, De mente Concilii Viennensis, p. 107 sqq.
2) Die handschriftliche Überlieferung der spekulativen Schriften
Olivis.
3) Vgl. Ehrle, Das Studium der Handschriften der mittelalterl.
Scholastik, S. 40.
12 2. Kapitel
dessen ursprüngliche Lehre häufig in der spezifisch neu-
platonischen Färbung der Emanationstheorie wiedergibt. Über-
dies trübt eine gewisse einseitige Voreingenommenheit, ver-
bunden mit einem heftigen, fast leidenschaftlichen Angehen
gegen die neue, fortschrittliche Richtung vielfach seinen
Blick für den vollen Aristotelischen Gedanken. Häufig genug
stößt man dabei auf eine unerquickliche Konsequenzmacherei
zu Ungunsten des Stagiriten. Beispielsweise stellt er in den
Borghese-Kodizes die Aristotelische Abstraktionstheorie ge-
treu dar, während deren Wiedergabe in Frage 74 des Yati-
canus ungeschichtlich ist.
Eine scharfe Kampfesstellung im Sinn des Korrektoriums
des W. de la Mare nimmt Olivi gegen Thomas v. Aquin
ein, mit dessen Ansichten er wohl vertraut ist; so in der
Lehre von der Möglichkeit einer ewigen Schöpfung, in ver-
schiedenen Punkten der Engellehre, in der Begründung der
Verstocktheit der Verdammten, in der Erklärung der mensch-
lichen Freiheit, in der Erkenntnistheorie. Häufig spielt er
auf verschiedene Zeitgenossen und zeitgenössische Richtungen
an, ohne daß man stets die bestimmten Namen ermitteln
könnte. Überhaupt verrät Olivi ein für seine Zeit um-
fassendes literargeschichtliches Wissen: so zitiert er häufig
Anselm. Hugo v. St. Viktor und andere Frühscholastiker,
die Araber und ihre neuplatonischen Theorien, vor allem
Averroes, Avicenna und die Perspectiva Alhazens. Diese
philosophische Belesenheit kommt vor allem in den breit
angelegten geschichtlichen Überblicken zum Ausdruck, die
häufig einen eigenen Teil der Quästio bilden.
In methodischer Hinsicht ist Olivi ein scharfer Dialek-
tiker und geschulter Logiker. Das zeigt sich sofort in der
ganzen Anlage und Dui'chführung der einzelnen Fragen. So
ausführlich er auch ist, nie verliert er den Fragepunkt aus
dem Auge. Durch übersichtliche Einteilungen wird der Über-
blick erleichtert. Vor allem offenbart sich seine begriffliche
Schärfe in den eindringenden Lösungen der Schwierigkeiten.
Die Tatsache allein, daß er wiederholt hervorhebt, gegen
welche Regel der formalen Logik die Beweisführung des
Gegners verstoße, weist auf eine sorgfältige philosophische
Die philosophische Eigenart Olivis 13
Schulung hin. Freilich ist seine Polemik häufig scharf und
heftig und in den Ausdrücken geradezu maßlos, besonders
wenn er auf die Aristoteliker und ihr Pochen auf die
Autorität ihres Meisters zn sprechen kommt.
Olivis stärkste Seite ist seine spekulative Kraft, seine
philosophische Tiefe. So verzerrt auch seine Informations-
lehre ist, rein formell betrachtet ist sie das Erzeugnis einer
ungewöhnlich starken Denkfähigkeit. Die Ausführungen über
das Unendliche und Kontinuum, über die Ewigkeit der
Schöpfung, über die Keimkräfte, über die Willensfreiheit^)
gemahnen an die erstklassigen Spekulationen der vornehmsten
Metaphysiker. Freilich ist er der Gefahr, die stets mit einer
ausgesprochenen Selbständigkeit und einem hervorragenden
apriorischen Zug gegeben ist — man denke nur an Piaton, Plo-
tin, Scotus Eriugena, Spinoza, Kant — , häufig unterlegen;
seine Aufstellungen sind oft weltfremd und unhaltbar, so
beispielsweise, um ganz von seiner Informationslehre abzu-
sehen, die Leugnung des Einflusses des Objektes auf das
Zustandekommen des Erkennens und Wollens.
Mit dieser ausgesprochenen spekulativen oder aprio
rischen Betrachtungsweise verbindet sich ein für die da
malige Zeit verhältnismäßig starker empirischer Zug^). Da
durch erweist sich Olivi als getreues Mitglied der Franzis
kanerschule, die mehr als andere die Beobachtung pflegte;
es sei nur an Bartholomäus Anglicus, Roger Bacon ^) und John
Pecham*) erinnert. Die Schätzung des positiven Wissens
kommt in der bereits erwähnten philosophiegeschichtlichen
Erudition zum Ausdruck. Vor allem verrät sich das Ver-
ständnis für die Erfahrung als die Grundlage der Speku-
lation in seiner modern anmutenden introspektiven Psycho-
logie, welche ihm die Daten in die Hand gibt, aus denen
1) Vgl. Jansen, Ein neuzeitlicher Anwalt der menschl. Freiheit.
2) Über die Stellung der mittelalt. Philosophie zum Positiven
und zur Empirie vgl. Baeumker, Die christl. Philosophie des Mittel-
alters, S. 358 ff. ; Ueberweg-Baumgartner, §§ 20, 21.
3) Die reiche Literatur über ihn siehe bei Ueberweg-Baumgartner
zu § 43 Y.
4) Über ihn Spettmann, Die Psychologie des Joh. Pecham.
14 2. Kapitel
er die Willensfreiheit ableitet^); vielleicht bei keinem mittel-
alterlichen Denker findet sich ein solch reiches diesbezüg-
liches Beobachtungsmaterial. Ebenso bedeutsam ist. daß
Olivi im Gegensatz zu Mbert d. Gr., Thomas, Roger Bacon
und fast der gesamten Scholastik des dreizehnten Jahr-
hunderts ein so unbefangenes Verständnis für den neu-
zeitlichen Bewegungsbegriff verrät^ wie er sich bereits bei
Philoponus (um 550 n. Chr.) findet und wie er dem christ-
liehen Abendland in einer von Michael Scottus 1217 ange-
fertigten Übersetzung der Planetentheorie des Astronomen
Abü-Ishäk al Bitrüschi übermittelt wurde 2). Olivi ist somit
bis jetzt der erste scholastische Denker, der die Bewegung
im Gegensatz zu den hergebrachten Aristotelischen Anschau-
ungen im Sinn des heutigen Trägheits- und Kraftbegriffs
erklärte. Die folgenden Ausführungen werden zeigen, daß
seine Erkenntnislehre von derselben verständnisvollen Kennt-
nis der Einzeltatsachen getragen ist; reichliches Beobach-
tungsmaterial hat er besonders der mathematischen Optik
Alhazens entnommen.
In diesem Zusammenhang sei bemerkt, daß sich bei
Olivi kaum neuplatonische Elemente finden, wie dies bei
vielen Denkern des dreizehnten Jahrhunderts ^) und nament-
lich bei den empirisch gerichteten, z.B. bei Albert d. Gr., Petrus
Peregrinus de Maricourt, Roger Bacon, Witelo, Wilhelm von
Moerbeke und Dietrich von Freiberg der Fall ist^). Abge-
sehen davon, daß Olivi häufig und scharf die „Sarazenen" be-
kämpft, wenngleich er sich anderswo auf Avicenna und
Averroes beruft, erhellt seine Stellung zum Neuplatonismus
1) Jansen, Ein neuzeitlicher Anwalt der menBchlichen Freiheit.
2) Jansen, Olivi der älteste scholastische Vertreter des heutigen
Bewegungsbegriffs. Über die Stellungnahme der Scholastiker des drei-
zehnten Jahrhunderts zur Bewegungslehre vgl. das bahnbrechende
Werk von Pierre Duhom, ^tudes sur Leonard de Vinci, 3 voll. Paris
1906-1913.
3) Vgl. Baeumker, Witelo ; derselbe, Der Piatonismus im Mittel-
alter ; derselbe, Die Stellung des Alfred v. Sareshel, S. 49ff. ; Schneider,
Die Psychologie Alberts d. Gr., 2. Teil.
4) Ueberweg-ßaumgartner, S. 551 ff.
Die philosophiBche Eigenart Olivis 15
nicht bloß aus dem Fehlen diesbezüglicher Gedanken-
motive — von Emanation und Lichtmetaphysik findet sich
keine Spur ^) — , sondern besonders auch positiv aus seiner
Engellehre. Gerade in den Ausführungen über dieses Lehr-
stück der Offenbarung, wo die Scholastiker willkommene
Gelegenheit hatten, sich nach dem Vorbild der Neuplato-
niker^) in langen Spekulationen über die Natur, Erkenntnis-
weise und Beziehungen der „Intelligenzen" zu ergehen,
verrät er eine ausgesprochene Gegnerschaft gegen den Neu-
platonismus. Im Anfang der Frage 33 : an in quolibet angelo
Sit tota sua species secundum totum ambitum suum bringt
er einen Zentralgedanken der Intelligenzlehre. Dionysius
sage im 9. Kapitel De hierarchia angelica — Olivi schätzt
natürlich seine Autorität hoch, zitiert ihn oft, hat aber keine
Ahnung von seiner wahren Herkunft — , quod superiores
ordines abundanter habent minorum sacras proprietates,
inferiores vero maiorum superpositas universitates non habent,
particulariter in eis primo apparentibus illuminationibus per
primas eis proportionaliter distributis, worauf andere Stellen
folgen mit der Schlußbemerkung: in omnibus his videtur
Dionysius expresse dicere, quod scientia et cetera dona, quae
sunt in inferioribus angelis, habeant quandam universali-
tatem respectu scientiae et aliorum donorum, quae sunt in
inferioribus. Diese Objektion wird ausführlich Aviderlegt, die
Engel ein und derselben Ordnung sind nicht spezifisch, son-
dern bloß numerisch verschieden, licet quidam sequentes
paganos philosophos et saracenos das Gegenteil gelehrt
hätten. In der folgenden Frage wird die andere These der
T^euplatoniker bestritten, daß die Engel Species universales
hätten. In der 36. Frage werden die Ideae innatae geleugnet,
nachdem bereits in der ersten Frage über die Engel (q. 32)
die Behauptung aufgestellt war, daß die Intelligenzen circum-
1) Ygl. die im 1. Kap. S. 6 Anm. 3 — 5 angefiilirte Literatur.
2) Vgl. Pseudo-Dionysius, De coelesti liierarciiia, auch seine
anderen Schriften, z. B. De divinis nominibus; Liber de causis; Proclus,
STotxstoaLg ^soXoytxT^ ; Der Traktat De intelligentiis (ed. Baeumker in
Witelo, ebendort die Untersuchungen über den Verfasser und die
philosophiegeachichtliche Stellung des Traktates).
16 2. Kapitel
scriptive in loco seien und nachdem vorher in der 9. Frage
mit besonderer Hervorhebung der Creaturae spirituales ge-
lehrt wurde, daß jedes gesehöpfliche Sein, auch das Aevum,
nach einander in der Zeit verlaufe. Das alles sind bestimmte
Absagen an den Neuplatonismus ; so allseitig war nicht einmal
die Absage des Thomas v. Aquin gewesen ^). Anderseits sind
in die Erkenntnislehre Olivis, wie wir sehen werden, einige
neuplatonische Gedankenmotive aufgenommen und in ihr
weiter geführt worden.
Verwandt mit dem empirischen Zug Olivis ist seine
kritische Einstellung 2). Freilich dürfen wir auch hier nicht
den modernen Maßstab anlegen, sondern müssen ihn im
Eahmen seiner Zeit betrachten, deren Sinn weniger auf
Kritik, mag es nun historische, literarische oder philosphische
sein, als auf Metaphysik gerichtet war ^). Und da reiht sieh
Olivi, mit seiner Selbständigkeit und seiner Unbefangenheit
der wissenschaftlichen Autorität gegenüber, würdig seinen
Ordensgenossen Roger Bacon und Duns Scotus an.
Mit berechtigtem Spott geißelt er die übertriebene Ver-
ehrung und blinde Gefolgschaft, die man mancherorts Aristo-
teles zollte. Wiederholt äußert er Grundsätze im Sinn
der heutigen, hochentwickelten Kritik, so in bezug auf den
Stagiriten : wenn dieser und seine Anhänger eine Behauptung
aufstellten, sollten sie ihre Gründe darlegen, dann wolle er
sie Unparteiisch prüfen: so lange das nicht geschehe oder
wenn diese nicht beweiskräftig seien, behalte er seine gut
begründete Meinung. Fast noch deutlicher spricht für seine
Selbständigkeit, wenn er sogar von seinem hochgeschätzten
philosophischen Führer Augustin wiederholt und in grund-
legenden Fragen abzuweichen oder gar ihn direkt zu wider-
legen wagt. So verläßt er die Augustinische Erklärung der
1) Vgl. Baeumker, Witelo, besonders das lehrreiche Sachregister,
z. B. das Stichwort „Intelligenz".
2) Jansen, Petrus Joh. Olivi. Ein lange verschollener Denker,
S. 113 ff.
3) Vgl. Baeumker, Die christl. Philosophie des Mittelalters, S. 535 f. ;
Jansen, Scholastische und moderne Philosophie (Stimmen der Zeit,
100. Bd. (1921) S. 253 ff.).
Die philosophische Eigenart Olivis 17
Rationes seminales, vor allem seine Erklärung vom Ursprung
der höheren Erkenntnis.
, Weiterhin verrät Olivi in der endgültigen Stellungnahme
zu den Fragen selbst so viel vorsichtiges Abwägen, kluges
Überlegen und kritisches Vorgehen, daß er hierin bei aller
sonstigen Verschiedenheit ein Vorläufer von Duns Scotus zu
sein scheint. Schon das Anhäufen von Einwänden — wieder-
holt sind es zwanzig bis dreißig — liegt in dieser Richtung.
In vielen Fragen erklärt er zurückhaltend, za einer Ent-
scheidung wegen der Dunkelheit des Gegenstandes nicht
gelangen zu können. Anderswo sagt er bescheiden, er tiber-
lasse die Entscheidung besseren Köpfen. Auf nicht gewöhn-
li^e Urteilskraft weist die Umsicht hin, mit der er seine
eigene Ansicht häufig nur als wahrscheinlich oder wahr-
scheinlicher hinstellt, ohne dadurch der entgegengesetzten
etwas von ihrer Beweiskraft nehmen zu wollen. Eingehend
prüft er auch die Tragfähigkeit der Gründe. So nimmt er
wiederholt einen nach dem anderen vor, um sie alle bis auf
einen als haltlos zurückzuweisen. Dabei fehlt es ihm gewiß
nicht an der Kraft, schlußfähig zu werden, wie anderswo
aus seiner bestimmten Art erhellt. Diese weise Mäßigung
und besonnene Zurückhaltung kann aber bei einem so leb-
haften, ja heftigen Temperament nur der Ausfluß überlegener
Verstandesgröße sein". ^)
Diese Zurückhaltung — ohne diesen charakteristischen
Zug wäre das Gesamtbild der wissenschaftlichen Eigenart
Olivis unvollständig — ist freilich häufig genug ein wenig
Diplomatie ^), die psychologisch aus dem Widerstand seitens
1) Jansen, Petrus Joh. Olivi, S. 114 ff.
2) Daß Olivi sich nicht bloß in der Spekulation, sondern auch
in der Praxis den Umständen geschmeidig anzupassen grüßte, zeigt
seine Stellungnahme zur Abdankung Coelestins V. Während seine
folgerichtig handelnden Anhänger sich gegen ihre Gültigkeit er-
klärten, sprach er sich für sie und damit für die Rechtmäßigkeit
Bonifaz VIII. aus ; dadurch entging er noch im rechten Augenblick
neuen Anfeindungen. Vgl. darüber die interessanten Veröffentlichungen
von Liv. Öliger O. F. M., Petri Joh. Olivi De renuntiatione Papae
Coelestini V. Quaestio et Epistola (Archivium Erancisc, Quaracchi,
vol. XI (1918) fasc. III— IV); vgl. auch K. Balthasar, Geschichte des
2
18 2. Kapitel
der Ordensleitung leicht erklärlich ist, teilweise indes bloß
der Ausdruck der uns so merkwürdig anmutenden mittel-
alterlichen Scheu ist, trotz der eigenen inneren Überzeugung
mit der entgegenstehenden hergebrachten Autorität offen zu
brechen. Wiederholt kann man nämlich die Beobachtung
machen, daß Olivi an der Stelle, wo er ex professo ein
Problem erörtert, keine endgültige Entscheidung gibt, dagegen
kurz darauf bei Behandlung einer ganz andern Frage ein-
deutig seine Stellungnahme ausspricht. So vorbirgt er in
Frage 58 seine eigene Ansicht über verschiedene Punkte
der Erkenntnislehre hinter anderen Vertretern derselben,
während er in den Fragen 72 bis 74 mit seiner Meinung,
die die gleiche geblieben ist, offen herausrückt. Noch offejj-
sichtlicher ist die diplomatisch gehaltene Taktik in den
Borghese-Handschriften an der Stelle, wo er die Augusti-
nische Illuminationstheorie zu behandeln hat. Nachdem er
erklärt hat, er wolle sie verteidigen, quia est magistrorum
non minus solemnium nee minus catholicorum, macht er so
viele Klauseln und Einwände, daß er sie tatsächlich illu-
sorisch macht, ja er verteidigt sogar uneingeschränkt die
mit ihr ganz unvereinbare Aristotelische Abstraktionstheorie,
um letztlich ganz diplomatisch zu erklären: ista, d. h. die
gegen den Augustinismus erhobenen Schwierigkeiten, quia
plene exponere nescio, idcirco soliim tamquam cavenda pro-
pono, 'quia licet praedicta propositio in se sit solemnis et
Sana, istis tamen non diligenter observatis posset esse valde
periculosa ; et ideo praedictam positionem secundum se teneo,
quia virorum valde solemnium est, praedictorum tamen ex-
positionem eorum sapientiae derelinquo. Daß es tatsächlich
nur noch die sorgenvolle Angst vor der Autorität ist, wes-
halb er die Augustinische Ansicht hält, ist zu offenkundig,
als daß man darüber noch ein Wort zu verlieren hätte.
Ähnlich ist die Taktik Olivis in der damals und später
Armutsstreites im Fraiiziskanerorden, Münster W. 1911,8.190. Bereit»
P. Ehrle hat wiederholt diese Gewandtheit und Beweglichkeit im
Charakter Olivis durchblicken lassen. (Olivis Leben und Schriften,
Archiv, TU S. 409 ff.).
Die philosophiBche Eigenart Olivis 19
80 viel umstrittenen Frage nach dem Prinzip der Individu-
ation *). Am Schluß der 12. Quaestio, wo er diesen Gegen-
stand mit gewohnter Ausführlichkeit behandelt und wo er die
gegnerischen Ansichten einander gegenüberstellt, erklärt er:
quidquid autem de istis opinionibus verius sit, sapientiorum
iudicio derelinquo; si tamen haberem aliquam teuere, se-
cundam — die Aristotelisch-thomistische, welche einen realen
Unterschied annimmt — teuerem, quia solemnior et com-
munior est, licet nullam scirem sustinere ad plenum. Und
doch hatte er unmittelbar vorher in der Lösung der vierten
Objektion gesagt: multi concedunt et, prout credo, recte et
catholice, quod forma habet per se suam individuationem,
ita quod nuUo modo habet eam aut contrahit ex materia.
Dieselbe Ansicht nimmt er in der Lösung der dritten Ob-
jektion der unmittelbar folgenden 13. Frage in Schutz. In
den in Venedig 1509 gedruckten Quodlibeta Olivis heißt es
sodann f. 52 r a — zweite Zählung — ad undecimum:
quaelibet creatura est suum esse, quia in creatura non
differt essentia ab esse. Trotzdem läßt die Quaestio 8 des
Vaticanus, die ex professo diese berühmte Kontroverse be-
handelt, die Frage offen.
Daß Olivi überhaupt ungern bei Behandlung von heiklen
Fragen mit seiner Meinung herausrückt, geht auch aus der
bezeichnenden Wendung am Schluß der 15. Frage: an
suppositum seu persona addant aliquid ad naturam, in qua
et per quam subsistunt, hervor. Nachdem er vorher gesagt
hatte: quao istarum opinionum sit verlor, sapientium iudicio
derelinquo, rückt er am Schluß mit seiner persönlichen
Ansicht heraus, aber gewissermaßen unter Protest: quoniam
quidam aliquando importune quaerunt.
„Selbst Beispiele literarischer Kritik, feinen Verständ-
nisses für sprachliche Zusammenhänge und neuzeitlicher
Bewertung der Quellen finden sich nicht selten. So betont
1) Correctoriuru, art. 8 f. 8; art. 29, 30 f. 17; art. 2 ff. 46. Unter
den von Bischof Stephan Tempier am 7. März 1277 verurteilten 219
Thesen ist auch die genannte Aristotelische Lehre getroffen, prop.
41—43, 100, 101, 115, 116 (bei Mandonnet, Siger de ßrabant, t. 2 p.
179 sqq. ; Denifle-Chatelain, Chart. Univ., Paris, I p. 543 sq.).
20 2. Kapitel
er bei Erklärung Aristotelischer Stellen die Notwendigkeit
und den Wert guter Übersetzungen. Zum Verständnis von
Averroeszitaten macht er den Zusammenhang geltend, weist
die erhobenen Schwierigkeiten mit dem Hinweis zurück, der
Text des Kommentators sei verdorben. " ^)
So ergibt, sich denn als Gesamtcharakteristik des Den-
kers Olivi, daß er, bei all seinem konservativen Augusti-
nismus und seinem Anschluß an Aristoteles in manchen
Einzelfragen, ein durchaus eigenartiger und selbständiger
Denker ist, den man ebenso wenig wie etwa Eoger Bacou
einfachhin einer Schule einreihen kann. -) Abgesehen von
der ihm eigentümlichen Lehre von der Information des
Menschen, kommt diese scharf umrissene Individualität
in seiner Auffassung von dem Verhältnis der Seelenkräfte
zur Seelensubstanz, in der Erklärung und Betonung der
absoluten Aktivität der Willensfreiheit, in der Formulierung
des Materien- und Formbegriffs, in der Theorie der Be-
wegung und in manch andern, weniger bedeutsamen Einzel-
heiten zum sprechenden Ausdruck. Nach der formell-me-
thodischen Seite spricht sich diese seine Eigenart in der
fast beispiellosen Ausführlichkeit, in der Stellungnahme
zur wissenschaftlichen Autorität und in der kritischen Ab-
wägung manch herkömmlicher Beweise aus.
All diese wissenschaftlichen Charakterzüge werden wir in
seiner Erkenntnislehre scharf ausgeprägt wiederfinden, die sich
somit harmonisch in das Ganze seines Lehrgebäudes einfügt.
1) Jansen, Petrus Joh. Olivi, S. U5.
2) Die Eigenart Olivis and sein vielfaches Verlassen der Tradi-
tionen seiner Schule tritt besonders deutlich hervor, wenn man ihn
mit seinen Zeitgenossen und Ordensbrüdern vergleicht; außer Aqua-
aparta vergleiche man etwa J. Pecham, Quaestiones tractantes de
anima, ed. Spettraann: derselbe, Die Psychologie des Joh. Pecham.
3. Kapitel.
Die literarische Überlieferung seiner Erkenntnislehre.
Um dem Leser von vornherein einen klaren Überblick
über das Ganze der so eigenartigen Erkenntnislehre Olivis
zu ermöglichen, machen wir in vorliegendem einige Angaben
über ihre literarische Überlieferung.
Ihre zusammenfassende Darstellung findet sie in dem
größeren Abschnitt des Vaticanus, der den Titel führt: de
actibus et habitibus potentiarum animae und da wiederum
vor allem in den drei ersten Fragen 72 — 74. Quaestio 72
lautet: an corpora possint agere in spiritum et in eins po-
tentias apprehensivas et appetitivas. Nach den üblichen
Objektionen werden drei Vorfragen behandelt : de vario
modo agendi et patiendi, obiectum est causa terminativa
actus cognitivi, materia aliquando non potest subiacere ac-
tioni aliquorum agentium; während die beiden ersteren be-
deutungsvoll sind, ist die letztere ziemlich belanglos. Im
darauf folgenden geschichtlichen Überblick werden die Ari-
stotelische Abstraktionstheorie, sodann die Ansicht, wonach
Körperliches unmittelbar auf Geistiges wirken kann und
die ihr entgegenstehende Augustinische Lehre dargelegt. Es
folgt die Aufzählung und Durchführung der vier Punkte:
corpus ex se et per se non potest aliquid directe in spiri-
tum; neque hoc potest per irradiationem factam ab anima;
per viam naturalis colligantiae potest aliquid fieri a corpore
in animam ; obiectum, in quantum terminat aspectum animae,
cooperatur productioni actuum et ex hoc actus habent spe-
ciem ab obiectis ^). Im dritten Punkt und in der ersten Vor-
1) Vgl. hierzu Kap. 6.
22 3. Kapitel
frage wird ex officio der neue, grundlegende Begriff der
Colügantia behandelt.
Es folgt Frage 73: an virtus cognitiva secundum suam
essentiam exterius non emissa possit ab extrineseco et di-
stanti medio vel obiecto absque eorum inf luxu mutari. Nach
kurzer Erwähnung der Aristotelischen Spezies und der Pla-
tonischen Emission wird ausführlich über die sonderbare
Augustinische Erklärung der Sinneserkenntnis, daß nämlich
die Sehkraft bzw. die Seele physisch bis zum projizierten
äußeren Gegenstand wandere, berichtet. Nach Widerlegung
der Emissionstheorie in der Platonischen und Augustini-
schen Form führt der Verfasser in Anknüpfung an Augu-
stinische Gedankenmotive in zwei Hauptteilen seine eigen-
artige, neue These durch, daß die Erkenntnisfähigkeit per vir-
tualem aspectum in longinquum attingit, ubi realiter non est,
daß sie also durch eine intentionale Ausstrahlung das Ob-
jekt ohne dessen physischen Einfluß geistig berührt. Da-
nach ist das Subjekt die adäquate Wirkursache des Erken-
nens und das intentionale Berühren kommt einer tatsäch-
lichen Fernwirkung gleich.
In Frage 74 : an principium effectivum actus cognitivi
sit species repraesentativa obiecti aut habitus aut potentia
vel utrumque simul wird zunächst ausführlich die Aristote-
lische Abstraktionslehre, freilich in vielfacher Entstellung,
darauf die Augustinische Ansicht von der höheren Erkenntnis
dargelegt, ohne daß indes die göttliche Einstrahlung und
das Schauen in den Rationes aeternae berührt würde ; es
schließt sich ein Referat über Augustins Theorie der sinn-
lichen Wahrnehmung an. Nach dieser geschichtlichen Ein-
leitung entwickelt der Verfasser in sieben Hauptpunkten,
die teilweise dieselben Ausführungen mehrmals bringen,
seine Auffassung. Die Grundgedanken derselben sind fol-
gende: die völlige Aktivität der Erkenntniskräfte und ihre
kausale Unabhängigkeit vom Objekt, wie das bereits in den
vorausgehenden Fragen, besonders in Frage 73, betont
wurde ; die Ablehnung der Spezies als einer dem eigent-
lichen Erkenntnisakt vorausgehenden psychischen Entität (Spe-
cies impressa), die den Erkenntnisvorgang einzuleiten hätte ;
Die literarische Überlieferung seiner Erkenntnislehre 23
bei Abwesenheit des Gegenstandes vertritt diesen die Spe-
cies memorialis im Sinn Augustins, im Zusammenhang hier-
mit wird das Vorhandensein eines geistigen Gedächtnisses
verteidigt; die Natur des Habitus und seine Notwendigkeit
für das Zustandekommen bestimmter Akte wird dargelegt.
Bedeutsam sind die in all diese Ausführungen eingestreuten
erkenntnistheoretischen Bemerkungen über das Wesen des
Erkennens als eines intentionalen, abbildhaften Darstellens
eines äußeren Sachverhaltes, die lebhaft an moderne Aus-
führungen, etwa bei Husserl und Geyser^), erinnern. Die
ganze Theorie Olivis ist ein selbständiges Weiterführen
Augustinischer Gedankenmotive.
Diese drei grundlegenden Fragen, die in ihrer ersten
Fassung als eine Trilogie bezeichnet werden, sind später
der endgiltigen Bedaktion des Vaticanus einverleibt worden.
Sie selbst aber sind eine Überarbeitung des letzten Teiles
der Frage 58: an liberum arbitrium seu voluntas libera
sit potentia passiva vel activa und berufen sich ausdrück-
lich darauf, während umgekehrt der Index — zu Frage 58
— im Anfang des Vaticanus auf jene hinweist. Quaestio 58
vertritt in scharfem Gegensatz zu Thomas und im Geist des
Scotus die volle Aktivität des freien Willens ^). Da die
dagegen eingangs erhobenen Schwierigkeiten zum Teil aus
der Analogie des Wollens mit dem Erkennen hergenommen
sind, wird in der Lösung derselben ausführlich auf die
Natur der Erkenntnis eingegangen. So wird in der Beant-
wortung des dreizehnten Einwandes die Frage verneint:
an Corpora sensibilia possint per se generare species sim-
plices et intellectuales in potentia nostrae mentis et iterum
an hoc possint per irradiationem intellectus agentis; es ist
dieselbe Untersuchung wie im ersten und zweiten Teil der
Frage 72, nur daß die Beweismomente zum Teil andere
sind, so wird u. a. gezeigt, daß die Irradiatio des Verstandes
nicht in einer Excitatio desselben bestehen könne. Item in
responsione ad quartum decimum tangitur quaestio, an omnes
potentiae apprehensivae sint passivae, was natürlich, ähn-
1) Vgl. hierzu den Anfang von Kap. 5.
2) Jansen, Ein neuzeitlicher Anwalt der menschlichen Freiheit
24 3. Kapitel
lieh wie in Frage 72 — 74, energisch verneint wird. Et ad
huius evidentiam pertractantur Septem: primo, quod actus
potentiarum non sunt immediate ab obiectis, fehlt in Frage
72 — 74; secundo, quod non sunt a solis speciebu, wird ins
q. 74 gestreift; tertio, quod non sunt partim ab eis et partim
a potentiis, deckt sich mit Frage 74 ; quarto, quod ipsi actus
sunt species seu similitudines obiectorum, die hier berührten
erkenntnistheoretischen Gesichtspunkte werden weit schärfer
und bestimmter in Frage 72 und 74 gefaßt; quinto, quod
anima non potest in se generare species, quae sint principia
effectiva suorum actuum, kehrt in Frage 74 wieder; sexto,
quod potentiae non possunt excitari ab obiectis ad gene-
randum huiusmodi species aut ad producendum suos actus,
deckt sich teilweise mit Frage 74, ist aber an Gesichtspunkten
reicher; septimo, quod potentiae sunt sufficientes ad effici-
endum suos actus absque coefficientia facta ab obiectis vel
speciebus, fällt mit dem sechsten Punkt der Frage 74 und
mit dem Grundgedanken der Frage 72 zusammen. Item in
responsione ad duodecimam supprobationem quarti decimi
argumenti d. h. der vierzehnten Objektion tangitur quaestio,
an species imaginariae sint incorporales et simplices, die im
Anschluß an Augustin entschieden bejaht wird; in respon-
sione ad tertiam decimam tangitur quadruplex causa, quare
potentiae sensitivae, quamvis sint activae suorum actuum,
indigeant organo, in erster Linie werden metaphysisch-psy-
chologische und erst in zweiter erkenntnis-psychologische
Fragen behandelt.
Formell besteht insofern ein tiefgehender Unterschied
zwischen den Fragen 58 und 72 — 74, als Olivi die hier vor-
getragene Lehre als seine persönliche Ansicht verteidigt, dort
aber ganz hinter andere Gewährsmänner zurücktritt; ein
Verfahren, das sich, wie gesagt, oft wiederholt. Offenbar hielt
er es damals noch nicht für zweckmäßig, mit seiner eigenen
Überzeugung hervorzutreten — einerlei, aus welchen Gründen
— ; tatsächlich hatte er sich, wie deutlich zwischen den Zeilen
zu lesen ist, eine solche schon gebildet.
Von den weiteren für die Erkenntnislehre in betracht
kommenden Fragen des Vaticanus ist Quaestio 75: an quando
Die literarische Überlieferung seiner Erkenntnislehre 25
Deus videtur ab intellectu creato, divina essentia teneat
locum speciei repraesentantis Deum, rein theologischer Natur
und zeigt in ihrer bestimmten Verneinung den gewohnten
Gegensatz zu Thomas ^) und seiner Schule, im Sinn des
Correctoriums des Wilhelm de la Marc 2). Noch lebhafter
führt die folgende Untersuchung in die damaligen Kämpfe
um philosophische Probleme ein, schon der Titel spiegelt
sie wieder: ex praedictis facile est videre, quod a multis
laboriose quaeritur et a quibusdara erronee pertractatur,
quomodo scilicet anima sciat se ipsam, an scilicet per speciem
seu per essentiam et an per immediatam reflexionem sui
aspectus super se aut primo dirigendo aspectum ad phan-
tasmata. Im Sinne des Augustinismus, wie ihn vor allem
die ältere Franziskanerschule vertrat, nimmt Olivi ein un-
mittelbares oder intuitives Erfassen der Seelensubstanz an,
die vollkommene Erkenntnis derselben knüpft dann syllo-
gistisch fortschreitend an das Ergebnis dieses ersten Schauens
an. Frage 78 : an unico simplici actu sciantur plures termini
eiusdem propositionis aut plura extrema eiusdem correlationis
aut plures partes eiusdem totius^), wird dahin entschieden,
daß die verschiedenen Glieder insofern zugleich erkannt
werden, als sie eine Einheit bilden.
Auffälligerweise wird der Augustinische Erkenntnis-
apriorismus vom Schauen der Wahrheit im höheren Licht
nirgends im Vaticanus eingehend behandelt und nur gelegent-
lich gestreift, so in Frage 38. Um so ausführlicher wird
diese im dreizehnten Jahrhundert so viel umstrittene Frage
in den beiden Borghese-Handschriften 358 (f 56^^ — 62^) und
322 (f 179^—183^) erörtert^).
Da zwischen der Erkenntnislehre, wie sie in den Borghese-
Handschriften und im Yaticanus dargelegt wird, einige saeh-
1) Deverit., q. 10 a. 11 ; Sent., IV. dist. 49 quaest. 2 a. 7; S. th.,
I q. 12 a. 2; S. th., 2 II q. 175 a. 3.
2) Fol. 3. art. 1.
3) Vgl. Thomas, S. th., 1 q. 85 a. 4. Dieselbe Fragestellung kehrt
bei den damaligen Scholastikern häufig wieder.
4) Einen Teil der ersten Frage des Codex 358 haben bereits die
Franziskaner am Schluß der Anecdota p. 245 — 248 abgedruckt.
26 3. Kapitel
liehe Verschiedenheiten vorhanden sind, muß zuerst ihre
Herkunft von Olivi in Sicherheit gestellt werden, ehe man
aus ihnen schöpfen kann. Freilich haben Pidelis a Fanna ^),
die Herausgeber der Auecdota^) und Franz Ehrle^), gewiß
hervorragende Kenner der mittelalterlich-scholastischen Hand-
schriften, ihren Inhalt im großen ganzen unbedenklich Olivi
zuerkannt. Was zunächst Codex 358 betrifft, so enthält
er bloß Fragen von Olivi, ist also kein Sammelband. Außer-
dem bemerkt zweimal eine Eandnote: istud volumen de doc-
trina fratris Petri Jobannis productum est coram Reverendo
Patre Domino Petro de Reblaio ; auch sonst wird am Eand
der Name Ohvis ausdrücklich genannt oder unzweideutig
auf seine Lehre hingewiesen. Mit Ausnahme des Traktates
über die Armut und einer einzigen Frage (f 154), die beide
sachlich nicht in den Zusammenhang des Vaticanus gehören,
finden sich alle Partien des Borghese-Kodex dort wieder.
Also, dürfen wir schließen, wird auch die f 56 sqq. behan-
delte Erkenntnislehre Olivi zum Urheber haben. Die Hand-
schrift 322 enthält freilich auch Untersuchungen, die von
andern Verfassern herrühren, indes wird dann eigens be-
merkt: quaestio, quao non est' Fratris Johannis.
Zu diesen äußeren Kriterien gesellen sich so viele innere,
daß beide zusammengenommen keinen vernünftigen Zweifel
an der Verfasserschaft Olivis übrig lassen. Trotz der inhalt-
lichen'Verschiedenheiten, die vor allem darin bestehen, daß
an Stelle der aus dem Phantasma abstrahierten Species der
Borghese-Handschriften im Vaticanus die Colligantia poten-
tiarum als Vermiltlung vom niedern zum höhern Erkenntnis-
vermögen tritt, sind der sachlichen Berührungspunkte doch
weit mehr. Zunächst wird stets die Augustinische Illumi-
nationstheorie abgelehnt, was bei der Bedeutung und Aktu-
alität derselben im dreizehnten Jahrhundert sehr auffällig
1) Zigliara, De mente Concilii Viennensis, p. 106 sqq., Zigliara
benützte Auszüge ans BorghesC'Handschriften, die ihm der gelehrte
P. Fideiis a Fanna übermittelt hatte, besonders aus dem Codex, der
jetzt der Vatik. Bibliothek einverleibt die Signatur 358 trägt.
2) p. 245.
3) Archiv, III S. 473.
Die literarische Überlieferung seiner Erkenninislehre 27
ist, zumal Olivi in der Grundrichtung seines Philosophierens
Anhänger der konservativen Richtung ist*). Umgekehrt
1) Vgl. damit z.B. Aquasparta, mit dessen Lehre diejenige Olivis
sonst so viele Berührungspunkte hat, yvie ja auch beide der älteren
Pranziskanerschule angehören und überdies fast zu gleicher Zeit
lebten (vgl. Grrabmann, Aquasparta; Ehrle, Das Studium der Hand-
schriften, S. 40). Die zweite Frage bereits über den Grund der Er-
kenntnis (p. 241 — 269) entscheidet sich ganz in Übereinstimmung mit
Bonaventura (De sciontia Christi; Utrum quidquid cognoscitur cog-
noscatur in ipsis rationibus aeternis ; Itinerarium mentis, cap. 2 n. 46 ;
J. Eberle, Die Ideenlehre Bs., Freiburg Br. 1911) für die Erkenntnis
von oben in den Rationes ideales, wenngleich zu diesem höheren Weg
der von unten oder voii der Erfahrung hinzukommen muß. — Ähn-
lich hält Roger Marston an der Illuminationslehre fest (Anecdota, p.
197 sqq.), verbindet damit aber Erfahrungselemente der Aristotelischen
Abstraktiönstheorie (A. Daniels, Anselmzitate, S. 43 f.). — Yen geschicht-
licher Bedeutung ist, daß sich Olivi in dem Verlassen der Augustinischen
Erkenntnislehre und in dem Ausgehen von der Erfahrung Richard v.
Middletown verwandt zeigt: in lumine naturali possum intelligere
aliquid verum creatum, cum ipsum lumen naturale sit intellectui no-
stro a Deo Impressum . . . possumus dicere, quod naturaliter possumus
intelligere aliquod verum creatum in aeterna veritate sicut in ratione
cognoscendi mediante lumine naturali nobis impressa ab ipsa; sicut
dicimus oculum corporalem videre aliquid in sole, quia videt in lumine
aolis, hoc est, in lumine corporali causato a sole (Anecdota, p. 235).
Vgl. Minges, Skotistisches bei Richard von Mediavilla, S. 75 ff., dort
auch verschiedene Belegstellen. — Auch Wilhelm von Ware, englischer
Franziskaner, den P. Ehrle (Theol. Zeitschrift, 17. Bd. S. 41 ; Die
Ehrentitel der scholastischen Lehrer des Mittelalters, München 1919,
S. 21 f.) als Vorläufer des Scotus bezeichnet, vielleicht gestützt auf
die handschriftliche Überlieferung des 14. Jahrhunderts, die August
Daniels (Wilhelm von Ware über das menschliche Erkennen, in
Baeumker-Festschrift, Münster W. 1913, S. 309) aus dem Codex 1424
der Wiener Hofbibliothek fol. 169 V bringt, weicht stark von der
Lehre der älteren Pranziskanerschule ab : unde concedendum est, quod
anima potest videre aliqua, immo omnia naturaliter cognoscibilia me-
diante lumine naturali sine aliquo lumine supernaturali, supposita di-
vina influentia generali (bei Daniels, p. 316); ähnlich pp. 314—315.
Das deckt sich ganz mit der Ansicht Olivis. — Wie die neuere
Forschung gezeigt hat, nähern sich die jüngeren Vertreter der
älteren Franziskanerschule in verschiedenen Punkten stark dem
fortschrittlichen Aristotelismus des Duns Scotus, der bekanntlich an
die Stelle der Augustinischen Einstrahlung die Aristotelische Ab-
straktion setzt (Sent. (Opus Oxoniense), I d. 3, q. 4). Zu diesen fort-
28 3. Kapitel
scheint der Kernpunkt der Aristotelischen Theorie, wonach das
höhere Erkennen aus der Erfahrung abgeleitet wird, auch
im Vaticanus beibehalten zu sein. Ja noch mehr: auch hier
finden sich Stellen, wonach der Verstand die höhere Er-
kenntnis durch Abstraktion aus der Erfahrung gewinnt, was
gewiß ein gewichtiges Zeichen für die Identität des Ver-
fassers beider Handschriften ist ^).
Dazu kommen ebenso schwer wiegende Ähnlichkeiten in
formeller Hinsicht. Wir berührten vorhin bereits das diploma-
tische Verfahren Olivis, das sich ebenso stark durch die schrift-
stellerische Art des Vaticanus hindurchzieht, wie es verschie-
dentlich in seiner praktischen Handlungsweise nachgewiesen
werden kann*). Diese Taktik nun springt nirgends so in die
Augen wie in der vorwtirfigen Frage der Borghese-Hand-
schriften. Obschon der volle Nachweis hierfür erst im Ver-
lauf dieser Darstellung dokumentarisch zu führen ist, möge
trotzdem an dieser Stelle nochmals auf das im vorigen Ka-
pitel hierüber Gesagte verwiesen werden. Hierzu kommt,
daß die fragliche These von derselben Kampfesstimmung
gegen Thomas getragen ist, die dem Vaticanus seine eigen-
artige, temperamentvolle Note gibt. Obschon nämlich Olivi
sowohl sachlich als formell genau so verfährt wie der
Aquinate^), der bekanntlich den Worten nach die Augusti-
nischen Rationes aeternae hielt, in der Tat. sie aber preis-
gab, und obgleich er gerade wie dieser das Psalmen wort:
signatum est super nos lumen vultus tui, Domine (Ps 4, 7) als
Ausdruck des persönlichen Ausgleichs zitiert*), so polemisiert
schrittlichen Vertretern zählen nun neben Richard v. Middletown (Ueber-
weg-Baumgartner, ö. 457), in mancher Beziehung auch Olivi, wie ich
das anderswo bereits hervorgehoben habe (Die handschriftliche Über-
lieferung, S. 147), und Petrus de Trabibus.
1) Vgl. das 12. Kap. S. 100 f.
2) Vgl. die hierfür im 2. Kap. S. 17 ff. angeführten Belege.
3) S. th., q. 84 a. 5; v. Hertling, Augustinus-Zitate, S. 576 ff.
4) Die Herausgeber der Anecdota schließen die Wiedergabe der
Lehre Olivis über die Augustinische Erkenntnislehre nach dem Borgh.»
Codex 358 mit folgenden Worten : ex his fragmentis apparet auctorera
hunc haerere dubium inter utramque sententiam ab ipso explicatam
— die Augustinische und Aristotelische — ipsumque, ut nobis videtur^
Die literarische Überlieferung seiner Erkenntnislehre 29
©r trotzdem gegen diese gekünstelte Auslegung der Lehre
Augustins : modus autem, quo Augustini dicta exponunt, etiam
modicum intelligenti faciliter apparere potest, quia non sapit
mentem Augustini. Ein widerspruchsvolles Verfahren, das
psychologisch wohl nur aus der habituellen, tief eingewurzel-
ten Kampfesstimmung des Spiritualenführers gegen die
Aristoteliker und speziell gegen ihren hervorragendsten Ver-
treter, Thomas v. Aquin, zu erklären ist. Wiederum ein neuer
Beweis für die Einheit der Persönlichkeit des Verfassers^).
non perfecte perspectas habuisse rationes S. Bonaventurae. T^ihilominus
cautelae, quae secundum ipsum in explicanda hac sententia observari
debent, et etiam difficultates, quae solvi debent, attentione dignae
esse videntur (p. 248). Dieses Urteil konnten die Franziskaner nach dem
damaligen Stand der Olivi-Kenntnis (1883) — erst 1887 kam die Forschung
durch P. Ehrle in Fluß — fällen; interessant ist, Tvie fein sie bereits
die Doppelstellung Olivis fühlten. Erst ein Vergleich mit der stets
wiederkehrenden Taktik im Vaticanus ergibt die Gewißheit, daß
Olivi hier häufig eine Rolle spielt.
1) Höchst auffällig ist, daß der Olivis Lehrrichtung so nahe ver-
wandte Petrus de Trabibus ebenfalls eine Wandlung in der Erkennt-
nislehre durchgemacht hat. Auch er vermittelt den Übergang vom
niederen zum höheren Erkennen durch die Colligantia, bekennt aber,
früher die Augustinische Lehre gehalten zu haben. Ich entnehme
dies den Auszügen, die P. Ehrle aus dem Sentenzenkommentar des
Petrus de Trabibus (Cod. Florent. Bibl. JS'ation. 1149 B. 5) gemacht
und die er mir gütigst zur Verfügung gestellt hat.
Eine sorgfältige Vergleichung beider Autoren bestätigte mir die
merkwürdige Übereinstimmung nicht nur in der Gesamtrichtung
der Doktrin, sondern auch in der Einzelausführung, worauf bereits
P, Ehrle (Archiv, III 459) nachdrücklich aufmerksam gemacht hatte.
Diese Übereinstimmung geht vor allem auf den Materien- und Form-
begriff, die eigenartige Seelen- und Informationslehre, das Ver-
hältnis der Seelensubstanz zu den Kräften, die Zusammensetzung der
Geister aus Materie und Form, weiterhin auf die Engellehre, die bei
beiden sehr ausführlich dargestellt wird, auf das Wesen der Erbsünde,
auf das Individuationsprinzip.
Auch in der Erkenntnislehre herrscht sachlich Übereinstimmung :
beide lehnen die Augustinische und im Grunde auch die Aristotelische
Erklärung ab und setzen an deren Stelle die CoUigantia-Theorie.
Indes beschränken sich die Ausführungen des Petrus de Trabibus, so-
viel ich aus den Auszügen des P. Ehrle ersehen konnte, auf diese
beiden Zentralpunkte ; die weiteren, reichen Darlegungen Olivis über
das Erkennen fand ich dort nicht.
30 3. Kapitel
Daß man überhaupt von einem Wandel in den philo-
sophischen Anschauungen Olivis nicht zu sehr überrascht
sein darf — wie ja auch Thomas und andere mittelalter-
liche Denker ihre Entwicklung durchgemacht haben — ,
erhellt selbst aus dem Vaticanus. Dort erwähnt er mehr
als einmal, z. B. im siebten Teil der 74. Frage, daß er in
bezug auf einen bestimmten Lehrpunkt seine Ansicht geändert
habe: sciendum tamen, quod quidam habitus insunt potius
eis [potentiis] ex redundantia essentialis efficaciae et ordinis
ipsius potentiae quam ex praeexigentia ipsorum ad actus
peragendos; et hoc modo insunt intellectui et voluntati
habitus naturalis notitiae et amoris sui et suorum connatu-
ralium, prout in quaestione, an hi habitus sint accidentia,
ostendi, quamvis in quaestione, an in homine sit liberum
arbitrium, in responsione ad duodevicesimum argumentum
contrariura scripserim.
Nehmen wir alle diese äußeren und inneren Kriterien
zusammen, so müssen wir die in den Borghese-Handschriften
358 und 322 befindlichen Fragen über die Erkenntnis Olivi
zuschreiben ') und haben damit eine sichere handschriftliche
Grundlage der nun folgenden Ausführungen gewonnen.
Die erste der beiden Fragen lautet : an aliquid directe
et immediate seu positive a nobis apprehensum sit Deus,
quod non est aliud quaerere quam an Deus videatur a nobis.
Olivt leugnet das entschieden. Von geschichtlicher Bedeu-
tung ist, daß er weitläufig von Ontologisten zu berichten
weiß, die Augustin in ihrem Sinn erklärten. Weiterhin ist
hervorzuheben, daß Olivi in der Lösung der sechsten Schwie-
rigkeit scharf gezogene Grundlinien erkenntnistheoretischer
Uiesen inneren Kriterien, die für die Möglichkeit der Identität
beider Öcholastiker sprechen könnten, stehen entscheidende äußere
Bezeugungen entgegen, wie u. a. aus Wadding-Sbaralea Supplemen-
tum, p. 61 1 sq. über Petrus de Trabibus, p. 595 sqq. über Petrus
OÜTi, 378 Über Jacobub Trisanto, der Petrus Trabibus wiederholt
zitiert, ersichtlich ist.
1) Ernst Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode, 6. Aufl.
Jjeipzig 1908; Alfred Feder, Lehrbuch der historischen Methodik, 2.
Aufl. Hegensburg 1921.
Die literarische Überlieferung seiner Erkenntnislehre 31
Natur gibt und im Gegensatz zur CoUigantia-Erklärung des
Vaticanus mit ausdrücklicher Berufung auf Aristoteles alle
höhere Erkenntnis durch Species, die aus der Erfahrung
abstrahiert sind, bewirkt sein läßt. Die zweite Frage lautet:
quoniam autem auctoritates Augustini in praemissa quae-
stione positas indiscussas transii, ut plenius videatur, quo-
modo a magistris modernis varie exponuntur, ideo ad huius
evidentiam quaerenda sunt duo iuxta hoc, scillicet an ra-
tiones aeternae sint nostro intellectui ratio intelligendi omnia
et an lux increata irradiet intellectum nostrum quadam spe-
ciali irradiatione in omni actu intelligendi. Nach einem Be-
richt über die verschiedenen Erklärungsversuche der dies-
bezüglichen Stellen Augustins, wobei, wie gesagt, die Tho-
mistische Erklärung besonders scharf abgelehnt wird, be-
hauptet er, Augustin folgen zu wollen^ um ihn dann tatsächlich
im Verlauf seiner Auseinandersetzung zu widerlegen.
Die eigene Ansicht in diesen Borghese-Haudschriften,
die wie in den Prolegomenen der Ausgabe zu zeigen ist,
vor dem Vaticanus abgefaßt sind, ist also ein entschiedener
fortschrittlicher Aristotelismus, der aus Opportunitätsgründen
durch die Lehre des Augustinismus verborgen und geschützt
wird. Vergleichen wir damit den Lehrstandpunkt im Vati-
canus, so bedeutet er in mannigfacher Beziehung eine rück-
läufige Bewegung zum Augustinismus, wobei freilich der
Grundgedanke des Aristotelismus vom Zusammenwirken sinn-
licher Erfahrung und schöpferischer Aktivität des Verstandes
gewahrt wird. Somit tritt in dieser letzten Darstellung so-
wohl das Selbständige der neuen Synthese, wonach sich
alles höhere Erkennen in produktiver Betätigung des Ver-
standes und in Anknüpfung an die Erfahrung ohne irgend-
welchen ursächlichen Einfluß des Objektes vollzieht, als auch
die Herübernahme Aristotelisch-augustinischer Gedankenele-
mente klar und bestimmt zu Tage.
im 1MST1TUTE OF MEDIAB'Al STÜDIES
;0 ELT.ISLEV PLACE
TORONTO 6, CANADA,
4. K a p i t e 1.
Die Grundlinien seiner Psychologie.
N^otwendiger vielleicht als bei der Mehrzahl anderer
Philosophen ist bei Olivi zum vollen Verständnis seiner Er-
klärung der Erkenntnis Vorgänge eine klare Darlegung über
das Verhältnis von Leib und Seele und über die psychische
Eigenart der niederen und höheren Erkenntniskräfte voraus-
zuschicken ^) ; denn bei kaum irgend einem anderen Denker
ist dieses Gefüge so verwickelt wie bei ihm. Folgendes ist etwa
das abgerundete Bild vom Verhältnis zwischen Leib und Seele.
Der zu informierende Leib ist ein physikalisch und chemisch
aufgebauter und organisierter I^aturkörper. Die Seele hat
eine Materia spiritualis, in der folgende drei Teilformen
gewurzelt sind 2): die Forma vegetativa, sensitiva und intel-
1) Jansen, Die Lehre Olivis über das Verhältnis von Leib und
Seele; Quonam spectet definitio Concilii Viennensis de anima. Lehr-
reich* ist ein Vergleich der Psychologie Olivis mit der anderer Scho-
lastiker seiner Richtung, von denen er indes in mannigfacher Bezieh-
ung wieder abweicht: Siebeck, Geschichte der Psychologie; Werner,
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne ; Lutz, Die Psycho-
logie Bonaventuras; Spettmann, Die Psychologie des J. Pecham;
Höver, Bog. Bacons Hylomorphismus; vgl. auch Baeumker, Bog.
Bacons Naturphilosojohie.
2) In den Franziskanischen Studien (z. B. S. 40 f.) und im Gre-
gorianura (z. B. p. 87) schrieb ich, daß die vegetative und sensitive
Form auch die geistige Materie „informieren" ; nachträglich habe ich
Stellen gefunden, die das, wenigstens schlußweise und mittelbar, zu
leugnen scheinen, während andere bisher nicht herbeigezogene Stellen
die frühere Auffassung neu bekräftigten. . Ich möchte deshalb diese
„Information" einstweilen nur als wahrscheinlich hinstellen; möglich
daß Olivi, wie in andern Lehrstücken, so auch in diesem zu ver-
schiedenen Zeiten eine verschiedene Ansicht vertreten hätte. Wie
dem auch sei, ob die vegetative und sensitive Form die geistige Ma-
Die Grundlinien seiner Psychologie 33
lectiva, von denen letztere jedenfalls als Form die geistige
Materie determiniert. Der vegetative und sensitive Seelen teil
sind durch sieh selbst, ohne weitere Vermittlung, Form des
Körpers, nicht so der intellektive . Er ist es jedoch mittel-
bar, d. h. durch Vermittlung der beiden andern Formen
und der geistigen Materie ; dadurch nämlich, daß er die
geistige Materie informiert, mit der auch die beiden andern
den Körper unmittelbar informierenden Seelenteile aufs in-
nigste verwachsen sind (radicatae), ist auch er substantiell
mit dem Körper verbunden. Weil endlich die intellektive
Form die abschließende und krönende Teilform ist und
als solche die ihr untergeordneten im Sinne Piatons und
Descartes' gleich Untertanen oder Werkzeugen lenkt, so re-
giert sie als höchstes Prinzip auch letztlich den Körper,
aber nicht per se, sondern per formam sensitivam et vege-
tativam. Die Verbindung der Forma intellectiva mit dem
Körper ist also tatsächlich keine Seins- oder formelle Eini-
gung, sondern eine rein dynamische^). Das einigende Band
von Leib und Seele ist mithin letzlich die geistige Materie,
die Olivi im Anschluß an Augustin ^) und den Augustinismus
auch für die immateriellen Wesen verlangt, um den Unter-
schied zwischen Gott als der reinen Aktualität und den Ge-
schöpfen, deren Sein stets Potentialität beigemischt ist, zu
wahren. In der ganzen Psychologie Olivis nimmt sie eine
hervorragende Stellung ein und wird uns darum anderswo
noch wieder begegnen.
Es entsteht nun die Frage, wie läßt sich trotz dieses
Auseinanderreißens der Pars intellectiva und sensitiva die
Einheit des Bewußtseins erklären. Die Tatsache derselben
terie informieren oder nur in ihr gew^urzelt sind (radicatae) — ein immer-
hin unklarer Ausdruck — , für das Granze seiner Informationslehre ist
dieser Punkt belanglos.
1) Dies ist der eigentliche Punkt, der von der bekannten Kon-
zilsentscheidung getroffen wurde. Demgegenüber wird definiert, daß
die Verbindung der menschlichen Seele mit dem Leib eine formale
sei. Anderseits beschränkt sich aber auch das kirchliche Dekret auf
die Erhebung dieses Lehrstückes zum Glaubenssatz (Jansen, Gregoria-
num, p. 88: Franziskanische Studien, S. 256f.).
2) Confess., XII 6, 7, 8, 12, 13: De genesi ad lit., I 14, 15.
3
34 4. Kapitel
wird mit Nachdruck hervorgehoben, 80 in Frage 31. Sie dient
als hauptsächlichstes Beweismaterial für die oft wiederkehrende
Behauptung, daß die Pars intellectiva, wenngleich sie nicht
durch sich den Körper informiere, doch substantialiter mit
ihm und der Pars sensitiva verbunden sei. So heißt es auch
in Frage 58, im ersten Teil der Lösung der vierzehnten Ob-
jektion: ita dicimus per intellectum ^ego video vel audio*,
slcut „ego intelligo". Gleich darauf wird die Erklärung
dieser Einheit gegeben: quia superior potentia habet se
ad inferiorem sicut forma radicalis et principalis ad instru-
mentalem, idcirco totus aspectus superioris potentiae est
directus et summe intimatus potentiae inferiori, inferior autem
est firmata et conclusa quodam modo in superiori sicut in
sua radice. Et per hunc modum unitissime concurrunt et
fundantur in eodem supposito. Et ideo actus inferioris po-
tentiae ita est intime praesens aspectui superiori et consi-
militer virtus ipsum producens, quod suo modo intime et
ita cito advertit et sentit eos sicut et suos.
In der Psychologie der Erkenntniskräfte schließt sich
Olivi aufs engste an Ä.ugustin an, vielleicht enger als in
irgend einem andern Lehrpunkt. Die Scheidung zwischen
niedern und höhern Erkenntnisfähigkeiten ist darum auch
nicht so scharf wie bei den Aristotelikern durchgeführt, nach
denen der Sinnesakt in seinem innersten Sein durch die
ausgedehnte Materie als Teilprinzip bestimmt ist, während
Olivi im Sinn der modernen Psychologie alle bewußten Akte
als einfach betrachtet. Wenn er nämlich auch des öftern
die Augustinische Erklärung des sinnlichen Erkenn ens, daß
dieses ein Aufmerken der Seele auf die durch den äußern
Eindruck im Körper verursachte Veränderung ist ^), bekämpft
— besonders im fünften Teil der Frage 74 — , so betrachtet er
doch im Anschluß an Augustin die einfache, unausgedehnte
Seele als das eigentliche Principium eliciens der Sinnes-
empfindung, sowohl bei Menschen als Tieren.
Um so nachdrücklicher betont er die Geistigkeit des
höheren Erkenntnisprinzips (Frage 67); seine Auffassung,
daß die Pars intellectiva nicht die Form des Körpers ist,
1) Vgl. De muBica, VI 5, n. 9, 10; De quantitate animae, cap. 24.
Die Grundlinien seiner Psychologie 35
erleichtert ihm natürlich die Beweisführung. Folgerichtig
zu dieser — freilich irrtümlichen — Annahme sind ihm der
menschliche Geist und seine Fähigkeiten von der gleichen
spezifischen Natur wie die der Engel (Frage 56) ; eine These,
die wieder in scharfem Gegensatz zu Thomas ^) steht. Die
Beweise für die Unsterblichkeit der Seele (Frage 52) gehören
zu den besten diesbezüglichen Ausführungen in der philo-
sophischen Literatur.
Eigenartig ist wiederum Uli vis Lehre von dem Verhältnis
der Seelenkräfte zur Seelensubstanz (Frage 51). Bekannt-
lich war dieses Problem stark in die Kontroversliteratur*)
des dreizehnten Jahrhunderts hineingezogen worden : Augu-
stinus^) und manche seiner Anhänger in der Früh-, Hoch-
und Spätscholastik, hier vor allem die Nominalisten, ver-
teidigten die Identität beider; umgekehrt traten Aristoteles,
Thomas und ihre Schüler entsprechend ihren metaphysisch-
psychologischen Prinzipien für die sachliche Unterschei-
dung ein*). Olivi nimmt eine Mittelstellung ein^), die mehr
i) S. th., q. 50 a. 4; q. 75 a 7; De ente et essentia, cap. 5, 9.
2) Oorrectorium, art. 1 f. 53 r.; vgl. die Bonaventura- Ausgabe
(Quaracchi). Scholion I 85, 87.
3) De Trin., IX, 4, 5. 10, 12; X 11 ; Rieh. v. Mediavilla lehrt
augustinisch, Sent., I dist. 3 quaest. 1, vgl. Minges, Skotistisches bei
R. V. M., S. 71 f; auch Wilh. v. Auvergne (De anima, III 2 p. 88 (1) ;
III 6 p. 92 (1)) — vgl. Baumgartner, Die Erkenntnislehre des Wilh.
V. Auvergne, S. 15 ff. — und Heinrich v. Gent (Quodlib., III q. 14) —
vgl. Stöckl, 2. Bd. S. 753 f. — verteidigten die Identität; über die
Nominalisten siehe Suarez, De anima, lib. II cap. 1 n. 2.
4) Aristoteles, De anima, II 2, 3, 413 a 30 sqq. ; III 4, 5, 429 a
10 sqq.; Eth., VI 2, 1139 a 3 sqq. ; Thomas, Sent., I d. III q. 4 a. 2;
S. th., I q. 54 a. 3; q. 77 a. 1, 3; De spir. creat., a. 11 ; Alb. M.. S. th.
I. t. 3 q. 15 a. 2 suba. 3 quaesit. 1 ; S. th., II t. 12 q. 72 m. 4 a. 3;
Sent., I d. 3 a. 34.
5) Bemerkenswert ist, daß die Pranziskanerschule einen andern
Mittelweg einschlug. „Pecham beantwortet die Erage mit seiner
Unterscheidung der potentiae und vires dahin, daß die Vermögen auf
die Kategorie der Substanz, die Kräfte auf die Kategorie der Akzi-
denz aurückzuführen seien. Auf die zweite Frage bezüglich des Un-
terschiedes der Potenzen von ihrer Substanz antw^ortet Pecham, daß
nur in Grott Potenz und Substanz identisch seien . . . Einmal ist er
gegen die frühscholastische auf Augustin eich berufende Leugnung
36 4. Kapitel
zu ersteren als zu letzteren hinneigt. Insofern jedoch sind
die Kräfte von der Substanz verschieden, als sie erst in
ihrer Gesamtheit deren Wesen ausmachen: potentiae sunt
partes constitutivae animae et differunt ab ea sicut partes
a toto et sunt idem cum ea sicut partes cum toto.
Eine aus diesem Verhältnis sich ergebende Folgerung
ist, daß, wie oft erwähnt wird, jede Fähigkeit ihre Form
und Materie hat, genau wie die Substanz selbst ; die Materie
hat als passives Prinzip die Tätigkeiten aufzunehmen, welche
die Form als aktives hervorbringt. Statt vieler Stellen ge-
nüge eine: materia potentiae volitivae, prout subest formae
talis potentiae, non est capax habituum et actuum potentiae
cognitivae nee e contrario, quia nee habitus et actus voli-
tivi possunt recipi in materia potentiae volitivae, nisi prout
est informata sua forma spirituali, per quam est volitiva.
Dabei hat nattlrlich die Form die Priorität vor der Materie :
actus cognitivi et eins habitus prius cohaerent formae sub-
stantiali animae et potentiae cognitivae quam suae materiae;
nam non possunt recipi in materia et praecipue in corpo-
rali nisi per praeviam et intermediam formam animae et
suae potentiae (Frage 72, Lösung der 11. Objektion). Inso-
fern ist sogar der totalen Aktivität des Willens, die Olivi
kaum zu stark betonen zu können glaubt, ein passives Ele-
ment beigemischt, als sie die Akte in sich aufnehmen muß
(Anfang von Frage 58). Aus dem nämlichen Grunde, so
wird in der Lösung der 13. Supprobatio der 14. Objektion
in Frage 58 ausgeführt, brauchen die sinnlichen Fähigkeiten
der Tiere trotz ihrer Einfachheit körperlich ausgedehnte
Organe: quia hi actus in potentiis organis unitis sunt, id-
circo et ipsi actus in organis sunt: Organa materia sunt ip-
sarum potentiarum tamquam suarum formarum, actus autem
des reellen Unterschiedes, sodann bestreitet er gegen die „thomistische"
Lösung, daß es sich bei «len Potenzen nur um Akzidentien handle . . .
Mit dieser Lösung betritt Pecham den gleichen Mittelweg, wie er
damals in seiner Ordensschule von Alexander Haies bis zu Duns
Scotus beliebt war." (Spettmann, Die Psychologie Pechams, S. 64 ff.,
vgl. den dortigen Literaturnachweis); Alex. v. Haies, S. th., II q. 65
TQ. 1. q. 21 m. 1; Bonav., Sent. II d. 24, 1 a. 2 q. 1; Duns Scotus,
Sent., II d. 16 q. unica.
Die Grundlinien seiner Psychologie 37
potentiarum recipiuntur aliquo modo in materiis earum.
Beim Menschen scheint dieser Grund wegzufallen: in ho-
minibus vero est aliter, quia ipsae potentiae habent dupli-
cem materiam, spiritualem scilicet et corporalem; et ideo
sicut ipsae principalius existunt in sua materia spirituali et
secundario in materia corporali, sie et ipsi actus et species
principalius existunt in materia spirituali, secundario vero
in corporali (A. a, 0.).
Weiterhin zieht sich durch Olivis gesamte Psychologie
der Seelenkräfte, der des Erkennens sowohl als der des
Strebens, die Grundanschauung hindurch, daß sie insofern
vollständig aktiv sind, als sie die volle Wirkursache ihrer
Akte sind, obschon sie des Objektes als Terminus oder Causa
terminativa oder, schärfer ausgedrückt, als Occasio — wie
es gelegentlich heißt — bedürfen. Mit großer Entschieden-
heit wird die Aristotelisch-thomistische Lehre von der teil-
weisen Passivität der Seelenkräfte — natürlich abgesehen
von der vorhin gemachten Einschränkung — und des Kau-
saleinflusses oder der Einwirkung des Objektes bekämpft.
In geschickter, selbständiger Weise, wie es die Art Olivis
ist, werden dabei Augustinische Motive, die gerade das Mo-
ment der Selbstbetätigung stark hervorheben, mit großer
Energie und einer gewissen Einseitigkeit weiter geführt.
Ganz und gar wandelt Olivi in den Bahnen Augustins,
wie er ausdrücklich hervorhebt, in der Psychologie der nie-
deren Seelenkräfte 1). Er kennt neben den fünf äußeren
bloß noch einen inneren Sinn (Frage 60 — 66) 2). Bezüglich
des Tastsinnes wirft er bereits die Frage auf, ob es einer
oder mehrere sei und entscheidet sich für die Einheit. Der
eine innere Sinn hat folgende Funktionen : als Sensus com-
munis sammelt er die verschiedenen Eindrücke der äußeren
Sinne und bezieht sie auf einen Gegenstand ; als Imaginatio
stellt er sich die absentes formas sensibilium vor; als
Potentia aestimativa, die eine Art sinnlicher Urteilsvermögen
1) Olivi zitiert De gen. ad.lit., XII 20, 23, 24; De Triu., XI 2— 6^
7, 8; XY 4.
2) Von den vielen spätem Denkern, die dieselbe Ansicht halten^
sei hier bloß Suarez genannt (De anima, lib. III cap. 30).
38 4. Kapitel
ist, unterscheidet er zwischen Nützlichem und Schädlichem;
als Memoria sensitiva endlich speichert er die sinnlichen
Bilder auf. Man sieht, die Funktionen werden so gefaßt
wie es bei den Arabern und den von ihnen abhängigen
christlichen Scholastikern der Fall war^). Im Anschluß an
Augustin^) und die Araber^) berichtet Olivi auch über die
Lokalisierung der inneren Sinne (q. 65), ohne eine persön-
liche Stellung zu nehmen. In bezug auf das Organ des
inneren Sinnes verbindet er die Platonische mit der Aristo-
telischen Ansicht (q. 62) ^), wie es bereits Avicenna und Aver-
roes getan hatten, denen später Albert d. Gr. und Roger
Bacon folgten^). Daß das Herz prior et fundamentalior radix
sensuum internorum sei, beweist zunächst sein Einfluß auf
alle Glieder des Körpers, sodann die innere Erfahrung, die
uns berichtet, daß der Verlauf der Lebensvorgänge durch
das Herz bedingt ist, endlich sein Verhältnis zum Gehirn,
das von ihm belebt und ernährt wird. Anderseits aber ist
das Gehirn die notwendige Ergänzung des Herzens, beide
zusammen machen das Organ der Empfindung aus. Diese
beherrschende Stellung des Gehirns ergibt sich daraus,
daß alle Sinnesnerven von ihm ausgehen, ferner aus der
Tatsache, daß eine Störung desselben die Akte aller
Sinne beeinträchtigt. Die Nerven werden entsprechend
1) Vgl. Horten, Das Buch der Bingsteine Färäbis, wo die Einteilung
der inneren Sinne bei Atfäräbi, Ayerroes, Avicenna und Thomas an-
gegeben wird, z. B. S. 218 ff., 236 f.
2) Es wird De gen. ad. lit., YII 17, 18 zitiert.
3) Vgl. Horten, das Buch der Ringsteine Färäbis, S. 220 ff.;
Baumgartner, Die Erkenntnislehre des Wilhelm v. Auvergne, S. 26;
Endres, in Philos. Jahrbuch, IX. Bd. (1899) S. 191 f.; Schneider, Die
Psychologie Alberts d. Grr., S. 178ff. ; Thomas, De verit., q. 10 a. 5;
q. 15 a. 1; Sent., I d. 3. q. 4 a. 1 ad 1 ; Sent., IV d. 7. q. 3 a.3.: Sent.,
IV d. 50 q. 1. a. 1 ad 3.
4) Vgl. Barach, Excerpta e libro Alfredi Anglici de motu cordis,
Innsbruck 1878, wo ein geschichtlicher Überblick tlber die Vertreter
beider Ansichten gegeben wird ; Siebeck (Geschichte der Psychologie)
stellt ebenfalls wiederholt die Anhänger der Platonischen und Ari-
stotelischen Auffassung zusammen; desgleichen Schneider, Die Psycho-
logie Alberts des Gr., S. 173 ff.
5) Vgl. Schneider, 8. 176 f.
Die Grundlinien seiner Psychologie 39
den Anschauungen der Physiologie, wie sie im Mittelalter
und noch lange in der Neuzeit herrschend waren — man
denke nur an Descartes — , als Hohlröhren angesehen, in
denen sich die aus dem Blut gewonnenen Spiritus animales
als Vermittler der Empfindung bewegen.
Die Seele informiert unmittelbar alle Teile des Körpers
(Frage 49). In ihrer Gesamtheit — also nicht bloß die Pars intel-
lectiva, sondern auch die Pars sensitiva — entsteht sie durch
einen Schöpfungsaktund nicht durch Zeugung seitens der Eltern
(Frage 51). Über die Pars vegetativa, die freilich von beiden
verschieden ist, schweigt sich der Verfasser aus, aber durch
Analogieschluß darf man als wahrscheinlich folgern, daß von
ihr dasselbe gilt. Man sieht, trotz der krausen lüformations-
theorie liegt Olivi doch viel daran, die strenge Einheit des
Menschen, so vergeblich das Bemühen auch ist, zu retten.
Mit Augustinus^) betont er häufig die Bedeutung des
Gedächtnisses, so namentlich im ersten Teil der Frage 74.
Die Species memorialis vertritt das abwesende Objekt, hat
also die Aufgabe, als Terminus extrinsecus aspectus et
actus cognitivi zu dienen, nicht aber, ut informet aciem
potentiae, ut sie per talem formam influat et producat actum
cognitivum; mit anderen Worten, sie ist nicht Formal- oder
Wirkursache des Erkenntnisaktes, sondern der Gegenstand,
auf den er sich richtet. Das Gedächtnis geht zunächst auf
die früheren Akte als psychisches Erlebnis und erst mittelbar
auf deren Gegenstand. Nachdrücklich wird, z. B. im ersten
Teil der Frage 74, neben dem sinnlichen Gedächtnis das
Vorhandensein eines geistigen hervorgehoben und nachge-
wiesen. Häafig finden sich Berufungen auf Augustins^) be-
rühmte beide Dreieinigkeiten (Trinitates) im niederen und
höheren Erkenntnisvorgang.
Die Beziehung, in der Gedächtnis und Verstand zu
einander stehen, wird in Frage 58, Lösung der 4. Supprobatio
der 14. Objektion, so dargestellt: memoria, licet dicat ma-
teriam ipsius intellectus, prout est apta ad suscipiendum in
se quasdam similitudines intellectuales, non tamen dicit ma-
1) Confesß., X 8—25; De Trin., IX 3, 4; Buch IX— XIV.
2) De Trin., XI 1—5.
40 4. Kapitel
teriam eins, prout cum forma operativa intellectus constituit
nnam potentiam operativam. Es ist rein passiv: non ipsa
producit species suas in se ipsa, sed potius producuntur in
ea per actum ipsius intellectus; unde et sine actu intelli-
gendi in ea generari non possunt; subito tamen ad actualem
apprehensionem intellectus sequitur retentio speciei in me-
moria et ad frequentationem ipsius actus magis ac magis
firmatur species in ipso, sicut et per actualem applicationem
et impressionem cerae ad sigillum generatur in cera quaedam
figura et forma, permanens post ipsam actualem applicatio-
nem ipsius cerae. — Vom sinnlichen Gedächtnis heißt es:
ad actum sensus communis in memoria fit species quasi
de potentia eins, ut sie secundum Augustinum, De Trinitate
(X 5), fiant in ipsa et de ipsa ; et ideo possunt remanere in
ea post absentiam actuum sensus communis.
5. Ka pi t e 1.
Der Begriff der Erkenntnis und der Wahrheit
Eine systematisch geschlossene Erkenntnistheorie dürfen
wir bei Olivi nicht erwarten. Weder die griechische noch
die patristische und mittelalterliche Philosophie ergehen sich
im Geiste eines Descartes und Kant in eindringenden kriti-
schen Problemstellungen über Möglichkeit, Bedingungen und
Grenzen der Erkenntnis. Trotzdem läßt sich aus der Ge-
samtphilosophie der scholastischen Denker eine eindeutige
Theorie über die Natur und den Geltungswert des Erken-
nens zusammenfassen, wenn sie auch nur gelegentlich kri-
tische Grenzbestimmungen machen und nur dann und wann
Bemerkungen über den subjektiven Anteil an der Bildung
der Vorstellungen und Begriffe einstreuen, wie vor allem
aus dem lebhaften Universalienstreit erhellt^). Diese er-
kenntnistheoretischen Untersuchungen treten bei den Nomi-
nalisten stärker in den Vordergrund^).
Innerhalb dieses bescheidenen erkenntniskritischen Rah-
mens seiner Zeit verbreitet sich Olivi ziemlich ausführlich
über das Wesen und den Geltungswert des Erkennens.
Neben ganz unkritischen Anschauungen bringt er Ausfüh-
1) Gleyser, Die Erkenntnistheorie des Aristoteles.; Kleutgen,
Die Philosophie der Vorzeit, 1. Band; Fischer, Die Erkenntnislehre
Anselms ; Baumgartner, Die Erkenntnislehre des Wilh. v. Auvergne ;
Rousselot Pierre, L'intellectualisme de S. Thomas, Paris 1908; Die ge-
nannten Thomas- Artikel von Baumgartner, in der v. Hertling- u. Baeum-
ker-Festschrift ; Thomas, S.theoL, q. 16, 17; De verit., q. 1; Grabmann,
Die Erkenntnislehre des Kard. M. v. Aquasparta; Baur, Die Philo-
sophie des Grosseteste ; Spettmann, J. Pecham Quaestiones ; Baeumker,
Witelo.
2) Dreiling, Der Konzeptualismus des Aureolus; Kugler, Der Be-
griff der Erkenntnis bei Ockham ; besonders Lappe, Nicolaus von
Autrecourt.
42 5. Kapitel
rungen, die durchaus neuzeitlich klingen und lebhaft an Ge-
dankengänge unserer Zeit erinnern.
Einen durchaus naiven Standpunkt^) vertritt der Yer-
fasser, wenn er ausführt, daß außer der Gegenwart des Ob-
jektes — ein Begriff, der nicht geklärt wird und darum
dunkel bleibt — nichts weiter als ein Sichhinwenden, als der
Aspectus der Erkenntnisfähigkeit zum Gegenstand nötig ist.
So werden im 4. Teil der 72. Frage die Gegenwart des Ob-
jektes und das Sichhinwenden zu ihm in engste Beziehung
gesetzt: obiectum est praesens potentiae, quando potentia
habet aspectum praesentialiter conversum super ipsum. Es
ist wie ein unmittelbares Erfassen und geistiges Betasten
des Gegenstandes, ein Durchtränktwerden der Erkenntnis-
kraft mit demselben. Das tiefere Problem, ob und wie
das möglich ist, kommt Olivi noch nicht zum Bewußtsein:
sola potentia erit totale principium actus; principio effec-
tivo totali praesente cum patiente et obiecto semper poterit
sequi actus ; obiectum autem tunc est praesens potentiae,
quando potentia habet aspectum praesentialiter conversum
super ipsum . . .; absque specie poterit obiectum esse prae-
sens potentiae (Frage 58, der 3. Punkt in der Lösung der
13. Objektion)*). Ähnlich im 4. Teil der 72. Frage: actus
1) Vgl. Ed. V. Hartraann, Das Grundproblem der Erkenntnistheorie,
Leipzig 1889.
2) Ähnliche Auffassungen finden sich bei den Nominalisten des
14. Jahrhunderts. Ohne näher auf die beiden bedeutendsten Vor-
läufer Aureolus und Durandus einzugehen, möge vor allem Occam,
der eigentliche wissenschaftliche Theoretiker des ^^Tominalismus, an-
geführt werden: quandocunque aliqua potentia est perfecta disposita
ad aliquem actum — und das ist sie ohne vorausgehende Species,
worum es sich an dieser Stelle eigentlich handelt — et obiectum se-
cundum se totum et quamlibet partem est perfecte praesens, tunc
potest sequi actus et distincte apprehendi illud obiectum sine omni
notitia praevia — d. h. ohne weitere Vermittlung, namentlich ohne
weitere Entitäten. — Hoc patet, quia non minoris perfeclionis est in-
tellectus dispositus et non impeditus, et maxime intellectus angelicus,
quam visus vel quaecunque potentia visiva. Sed potentia visiva, si
obiectum suum sit convenienter praesens et potentia sit sufficienter
disposita, statim distincte apprehendit illud obiectnm (Sent., I dist. 27
quaest. 2 E).
Der Begriff der Erkenntnis und der Wahrheit 43
et aspectus cognitivus habet obiectum intra se irabibitum . . .,
vis cognitiva generat actum eognitivum cum quadam infor-
mativa imbibitione actus ad obiectum et cum quadam vi-
scerali tentione obiecti.
Diese ganze Ilnwissenschaftlichkeit tritt noch deutlicher
in Frage 73, speziell in bezug auf die Sinneserkenntnis,
zu Tage. Ohne irgendwelche Einwirkung des äußeren Ge-
genstandes, etwa durch Yermittlung von Eindrücken oder
Species, kann der Sinn weit entfernte Gegenstände erkennen.
Es wird dieser Vorgang als eine virtualis actio, als ein vir-
tualiter attingere, als ein agere potentiae, ubi secundum suam
essentiam non est, beschrieben.
Um so bedeutsamer und moderner ist der zweite Ge-
sichtspunkt, unter dem Olivi das Erkennen betrachtet.
Es ist ihm ein intentionales Ergreifen des Gegenstandes.
Die logische Wahrheit ist eine Aussage über die ontologische
Wahrheit, welch letztere scharf von jener geschieden wird
und sich stufenförmig in verschiedenen Seinsordnungen auf-
baut. Sind diese Gedanken Gemeingut der Scholastiker^),
80 dürfte die Auffassung des Erkennens als eines Meinens,
Bezeichnens von etwas, eines Geltens, eines Hinweisens
und Sichbeziehens auf einen Sachverhalt aus dem Vorstel-
lungskreis der damaligen Zeit herausfallen und teilweise
die Anschauungsweise der Modernen, eines Lotze ^), Husserl,
Geyser, wiedergeben. Dasselbe gilt von der Beschreibung
des Erkennens als eines Erfülltseins und Gesättigtseins der
1) Hier wirken Platonisch-aristotelisch-augustinische Motire nach,
ohne daß sich Olivi dafür auf die genannten Autoren eigens zu be-
rufen brauchte. ISTur einmal in der 11. Objektion der 14. Quaestio
bringt er die Definition Augustins : „veritas est id, quod est" (Soliloq.,
II 5). Vgl. Kleutgen, Die Philosophie der Vorzeit, 1 . Bd. S. 23 ff. ;
Fischer, Die Erkenntnislehre Anselms, S. 50ff. ; bekanntlich hält An-
selm getreu an Augustin fest; Baumgartner, Die Erkenntnislehre
des Wilhelm von Auvergne, S. 28; derselbe, Zum thomistischen
Wahrheitsbegriff; Pecham, Quaest. 40 — 42; Grabmann, Aquasparta,
8. 36 ff.
2) System der Philosophie,!. Teil Logik, 2. Aufl., Leipzig 1881;
vgl. KuBserl u. Geyser; Arthur Liebert, Das Problem der Geltung,
2. Aufl., Leipzig 1920; Martin Honecker, Gegenstandslogik und Denk-
logik, Berlin 1921.
44 5. Kapitel
Intention oder Inklination der Erkenntniskraft durch da»
Objekt.
Dieses Aussagen, Bezeichnen und Meinen vollzieht sich
im Urteil, in der Verbindung von Subjekt und Prädikat.
Leider wird das Wesen des Urteils nicht näher bestimmt.
Darf man indes die spärlichen Andeutungen aus dem Ge-
samtgeist der Ausführungen Olivis deuten, so müßte man etwa
so sagen : im Subjektivbegriff erfaßt der Verstand das Ob-
jekt im allgemeinen und hebt sodann im Prädikatsbegriff
eine bestimmte Note aus dem Totalkomplex der wesent-
lichen und zufälligen Eigenschaften desselben heraus und
bejaht dieselbe in der Ilrteilsverbindung von dem in Frage
stehenden Gegenstand; wie also Subjekt und Prädikat lo-
gisch verbunden sind, so fällt die ins Auge gefaßte Einzel-
note sachlich mit dem Gesamtding zusammen oder gehört
ihm doch an.
Weiterhin wird mehrmals die Wahrheit der sprachlichen
Aussage oder der Propositio von der Wahrheit der rein in-
neren Zustimmung unterschieden, erstere ist der Ausdruck
dieser letzteren^).
Wahr ist die Erkenntnis, die mit ihrem Gegenstand
übereinstimmt; die bekannte Gleichung, die Thomas von
Isaak Israeli 2) herttbergenommen hat: veritas est adaequatio
intellectus cum re, findet sich wohl sachlich, aber nicht for-
mell' bei Olivi. Jeglicher Psychologismus ist bei ihm von
vornherein ausgeschlossen. Er unterscheidet noch nicht,
obgleich eine oberflächliche Betrachtung mancher Wendungen
das nahezulegen scheint, den psychologischen Vorgang
der Wahrheitsaneignung oder den Akt des Urteilens vom
Inhalt oder Urteil. Der Gegenstand des Erkennens ist
entweder ein einzelnes Objekt, mag es der sinnlichen
oder übersinnlichen Ordnung angehören, und wird direkt in
sich erkannt, oder die Welt der allgemeinen, „idealen*
1) Vgl. die verwandten Ausführungen Aneelms, De veritate, cap.
2; Fischer, S. 50 ff.
2) S. th., I q. 16 a. 2; vgl. Guttmann, Die philosophischen Lehren
des Isaak benSalomon Israeli; bei Pecham findet sich diese Definition
wiederholt (ed. Spettraann, p. 217 sqq.)-
Der Begriff der Erkenntnis und der Wahrheit 45
Wesenheiten, die keine physische Existenz, sondern eine
metaphysische Wirklichkeit besitzen — wie ja auch das All-
gemeine im Sinn des gemäßigten Realismus nur im Einzelnen
seinem Inhalt nach verwirklicht ist (Frage 13) — , oder letzt-
lich das Absolute. Dieses ist der tiefste Grund und Urquell
(Causa) aller Seins- und Erkenntnisgesetze ^). Ganz im Ein-
klang mit Aristoteles ^) behauptet Olivi, daß die Ordnungen
des Seins und menschlichen Erkennens im umgekehrten
Verhältnis zu einander stehen: weder Gott noch die allge-
meinen Wesenheiten schauen wir in sich, sondern gelangen
erst durch vielfache Bearbeitung des Inhaltes der Erfahrung
zu ihrer Kenntnis.
Der Irrtum kann einen doppelten Grund haben; ent-
weder ist er durch die mangelnde Klarheit des Objektes
oder durch den Einfluß des Willens hervorgerufen: falsitas
aliquando provenit ex pravo affectu intellectum et eins iu-
dicium distorquente seu tortuose deducente, aliquando ex
defectu intellectus nequeuntis verilatem obiecti discernere.
Ganz allgemein wird die Einwirkung des Strebevermögens
auf das Erkennen im 1. Teil der Frage 74 ausgesprochen:
acumen et claritas per pravos affectus et per nimis mate-
rialem adhaesionem ad imaginationem et sensum potest
valde obfuscari et detorqueri absque minutione substantiae
suae et e contra per sanctos affectus et gustus habitualiter
clarificari et acui et dilatari.
Wir haben im Vorstehenden einen gedrängten Über-
blick über den Aufbau des Erkenntnis- und Wahrheitsbe-
griffs gegeben, ohne das Gesagte mit Olivis eigenen Worten
zu belegen, um die Übersicht nicht zu erschweren. Lassen
wir ihn nunmehr selbst zu Wort kommen.
Das Erkennen ist zunächst das Darstellen eines Sach-
verhaltes: orationem oportet conformari rei seu significato
suo ad hoc, quod sit vera (Lösung der 25. Objektion in der
1) Augustinus, De vera relig., cap. 31 n. 11; De Trin., VIII 2 n. 3;
XIV 15 n, 21 ; De lib. arb., II 9 n. 26; vgl. Fischer, Die Erkenntnis-
lehre Anselms, S. 58ff. ; Thomas, S. th., 1 q. 16 a. 5 — 8; De verit., q.
1. a. 4-6, 8.
2) Anal, post., I 2, 3.
46 5. Kapitel
ersten Borghese-Frage). Ferner die eindrucksvolle Stelle
im 4. Teil der 72. Frage : obiectum habet rationem confi-
gurativi et repraesentativi seu cognitivi, nam actus et
aspectus cognitivus figitur in obiecto et intentionaliter habet
ipsum intra se imbibitum. Propter quod actus cognitivus
vocatur apprehensiva tentio obiecti, in qua quidem tentione
et imbibitione actus intime conformatur et configuratur ob-
iecto. Ipsum etiam obiectum se ipsum repraesentat aspectui
cognitivo et per actum sibi configuratum est quaedam re-
praesentatio eins . . . Vis cognitiva fit ipsa similitudo obiecti
et sigillaris expressio obiecti . . . Ex hoc, quod actio cogni-
tiva est talis obiecti, habet, quod sit eins expressiva visio
et simillima imago. Im 1. Praenotamentum der 72. Frage
heißt es : agens agit intra se, dirigendo vim suam in obiec-
tum extrinsecum et etiam eo ipso aperiendo et applicando
suam potentiam passivam ad ipsum obiectum, acsi deberet
obiectum intra se capere.
Der Unterschied zwischen dem Denkinhalt und dem
Sachverhalt und zugleich die innige Beziehung zwischen
beiden bringt die Lösung der genannten 25. Objektion im
Borghese-Kodex klar zum Ausdruck : veritas orationis sim-
pliciter et proprio non causatur a veritate rei, quia res non
est causa effectiva alicuius substantialis vel accidentalis,
quod sit in oratione, cum frequenter loquamur de rebus
absehtibus et de non existentibus. Pro tanto tamen potest
dici causa, quia oportet orationem conformari rei seu signi-
ficato suo ad hoc, quod sit vera. Et hoc est, quod dicitur
ab eo, quod res est vel non est ^). Quod autem dicitur, quod
ad solam mutationem rei oratio mutatur de veritate in fal-
sitatem et e contrario, non est intelligendum, quod hoc fiat
per hoc, quod orationi aliquid adveniat formaliter et de-
pereat, quia hoc non est verum; sed eo modo, quo Petrus
similis Paulo in albedine dicitur esse mutatus et factus dis-
similis, sola mutatione facta in Paulo, utpote facto nigro, et
nulla reali mutatione facta in Petro.
Das Urteil ist der logische Ausdruck und Träger der
Wahrheit : veritas — die geschöpfliche im Gegensatz zur
1) Vgl. Aristoteles, Metaph. IV 7.
Der Begriff der Erkenntnis und der Wahrheit 47
göttlichen, wie ausdrücklich gesagt wird — est veritas habi-
tudinis et compositionis praedicati cum subiecto (die Lösung
der 6, Objektion in der ersten Frage der Borghese-Hand-
schrift). *) Dort wird auch das Verhältnis der Propositio
oder des sprachlichen Ausdrucks zur inneren Aussage be-
schrieben : eadem veritas per propositionem significatur, quae
etiam ab intellectu intellegi significatur.
Die Wahrheit oder Erkenntnis als ein Meinen und
Bezeichnen und die Gegenüberstellung von logischer und
ontologischer Wahrheit finden ihre Formulierung in der
Lösung der 24. Objektion der nämlichen Frage. Ich lasse
wegen der Vieldeutigkeit der in Frage kommenden Ausdrücke
zuerst eine freiere Übersetzung folgen, wie sie sich aus dem
Zusammenhang ergibt: wie der gemeinte Sachverhalt von
der Aussage — dem Urteil oder Denkinhalt — verschieden ist,
so ist auch die Wahrheit der ersteren von der Wahrheit der
letzteren verschieden . . ., wie ja auch stets die idealen, all-
gemeinen Wesenheiten von der ihr entsprechenden Einzel-
natur verschieden sind, so daß diese stets und tatsächlich
etwas anders bedeutet als jene. Sicut est aliud ipsum si-
gnificatum ab ipsa propositione, ita et veritas significati a
propositione significante . . ., sicut natura ideata differt semper
ab ideato realiter, ita quod ideatum semper ponat actu aliam
rem ab idea. Ähnlich wird in der Lösung der 25. und 6. Ob-
jektion, die vorhin bereits im Auszug gebracht wurden, von
dem Gegenstand als dem durch die Erkenntnis Bezeichneten
und der Wahrheit als dem Hinweisen auf ein Objekt ge-
sprochen.
Das Erkennen ist die Erfüllung einer Intention: aspectus
non dicitur figi in obiecto per suarum essentiarum materialem
contactum, sed solum per hoc, quod huius ad illud obiectum
inclinatio et impendentia firmiter quietatur, acsi eins essentia
esset in obiecto fixa.
Das Verhältnis des Ordo metaphysicus oder der ewigen
1 ) Genau wie Leibniz : De scientia universali (Erdmann, Opp.
phil., p, 83), Discours de mötaph., XIII (Gerhardt, Die philos. Schriften
von Leibniz, 4. Bd., S. 436 ff.); vgl. Jansen, Leibniz erkenntnistheore-
tischer Realist, S. 27 f.
48 5. Kapitel
Wahrheiten zur Wirklichkeit des Einzelnen und zu Gott be-
leuchtet die Lösung der 6. Objektion der ersten Borghese-
Frage. Olivi vertritt hier wie in Frage 13 des Vaticanus,
wo er ex professo gründlich und scharfsinnig die Univer-
salien behandelt, den gemäßigten Realismus der Aristoteliker.
Im 1. Teil der 74. Frage heißt es : universale nihil reale dicit
aut ponit nisi in particularibus suis. Weiterhin lehrt er, daß
die allgemeinen Wahrheiten nur in einem sie denkenden
Verstand tatsächlich vorhanden und daß sie nur in den
Einzeldingen verwirklicht sind, daß sie aber anderseits als
rationes ideales manent rebus destructis, quia talis veritas,
V. g. ratio ternarii, quantum est absolute et universaliter
intellecta, abstrahlt ab omni re particulari et ab omni tem-
pore et loco, et eadem ratione omnia alia universalia dicuntur
esse ubique et semper. Der letze Grund dieser metaphy-
sischen Seins- und Wahrheitsordnung ist Gott und zwar seine
Wesenheit, nicht sein Verstand. Sie fallen aber nicht mit
Gott zusammen, sondern sind bloß in seiner Natur und in
seinem Verstand begründet: licet veritas divini intelligere
sit veritas simpliciter et summa, obiecta tamen e contrario
quantum ad naturas et veritates, quae eis competunt, secun-
dum se non sunt in Deo nisi secundum quid, quia non sunt
ibi nisi sicut in causa vel sicut in exprimente.
So weist also bei Olivi wie bei den klassischen Ver-
tretern einer realistischen Erkenntnislehre die Logik auf die
Ontologie, das Denken auf das Sein und letztlich auf das
Absolute hin. Es ist eine einheitliche, tief durchdachte
Weltanschauung. Wie Thomas, so verarbeitet auch Olivi
Platonisch-augustinische und Aristotelische Gedankenmotive
zu einem abgerundeten, inhaltlich reichen Begriff des Br-
kennens^).
1) Mandonnet, in Dictionnaire de th6ol. cath., unter Fr^res-Prö-
cheurs ; Baeumker, Die Geschichte der christlichen Philosophie des
Mittelalters ; Suarez, Disputationes metaphysicae ; Zeller, Die Philo-
sophie der Griechen, 2a u. 2b (Piaton und Aristoteles) ; Kleutgen, Die
Philosophie der Vorzeit, besonders im 1. Band.
6. Kapitel.
Die Stellung des Objektes im Erkenntnisvorgang.
Das ist der fundamentale Unterschied zwischen der
Aristotelisch-mittelalterlichen und der Kantisch-neuzeitlichen
Erkenntnislehre, daß dort das tatsächliche Sein, das von außen
dem Geist gegenüberstehende Objekt das Maß und das
Kriterium der Wahrheit abgibt, daß hingegen bei Kant und
seinen Anhängern die Seinsgesetze eine Schöpfung des
Geistes sind, ihren Ursprung im Subjekt d. h. im Bewußtsein
überhaupt haben und daß die Wahrheit in der Überein-
stimmung der Erscheinungen mit der Struktur der aprio-
rischen Erkenntnisregeln und deren normalem Verlauf be-
steht^). Wie darum die Darlegung des Erkenntnisverlaufes
und die Erklärung des Ineinandergreifens der dabei be-
teiligten Faktoren bei den Neueren vom Subjekt ausgehen
muß, so bei den Scholastikern vom Objekt.
Die Darlegungen Olivis über die Stellung und den An-
teil des Gegenstandes am Erkennen haben zwei Seiten. Ein-
mal wird die absolute Notwendigkeit desselben hervorgehoben:
der Aspectus der Erkenntniskraft — ein zentraler Begriff
seiner Erkenntnislehre — muß auf etwas Dingliches oder
Gegenständliches gehen, wie mit scharfer Unterscheidung von
Subjekt und Objekt oft betont wird. Ist kein realer, physi-
scher Gegenstand vorhanden, dann vertritt das Gedächtnis-
bild, die Species memorialis, seine Stelle. Darum spezifiert
auch das Objekt den Akt, bestimmt seinen Vorstellungsin-
halt in concreto, wie die Ausführungen im 4. Teil der
1) Ygl. Kant, Kritik d. R. Y., 2. Aufl. (Berliner Ausg., 3. Bd. S.
234), Proleg., § 13. Anra. III (4. Bd. S. 290); vgl. Ch. Sentroul, Kant
und Aristoteles, übersetzt von H. Heinrichs, Kempten 1911.
4
50 6. Kapitel
Frage 72 dartnn. In der Lösung der 2. Objektion der
nämlichen Frage heißt es: sicut actus causantur ab obiecto
tamquam a suo termino eos terminante, sie trahunt ab eo
speciem obiecto conformem, et hoc modo a diversis obiectis
diversas trahunt species. Darum wird der Anteil des Ob-
jektes am Erkennen als eine Causalitas und Cooperatio be-
zeichnet, die Erkenntnis selbst ein Abbilden, Absiegeln, Dar-
stellen, Ausdrücken desselben genannt, der Gegenstand übt
eine Vis terminativa auf das Erkenntnisvermögen aus.
Das alles sind beinahe scholastische Selbstverständlich-
keiten, die aber der Vollständigkeit halber hier ihren Platz
finden mußten.
Ganz anders ist es mit der zweiten Seite der Theorie
Olivis über die Bedeutung des Objektes bestellt. Er ent-
wickelt da eine Ansicht, die er selbst als ziemlich vereinzelt
dastehend bezeichnet. Am Schluß der Lösung der 14. Ob-
jektion der Frage 58 sagt er nämlich: sie igitur respondent
isti, [sc. ad istas quindecim probationes quarti decimi argu-
menti]. . . Licet autem isti in aliqua parte dictorum suorum
concordent quibusdam magnis doctoribus et in aliqua alia
parte aliis etiam magnis, in quibusdam tamen omnino dis-
cordant ab omnibus. Diese letzte Bemerkung geht aller
Wahrscheinlichkeit nach auf die Stellung des Objektes.
Ferner bemerkt er im Anfang der Frage 58: quosdam etiam
vidi, . minoris tamen auctoritatis quam praedicti, nämlich
als die Aristoteliker . . . und nun folgt die Ansicht, welche
den Einfluß des Objektes leugnet. Natürlich braucht Olivi
entsprechend dem literarischen Auftreten seiner Zeit eine
führende Autorität und so behauptet er auch in bezug auf
diesen Punkt, an Augustinische Gedanken anknüpfen zu
wollen : quia vero Augustinus circa actum particularium sen-
suum more dubitantis et hinc inde fluctuantis aliqua dixit,
daß sie nämlich vom Objekt ursächlich beeinflußt werden,
idcirco id, in quo certius est locutus, pro meo modulo pro-
sequens dico, quod cognitivi actus efficiuntur a potentia,
non tamen per solam nudam essentiam eins, immo in omni-
bus exigitur actualis aspectus super obiectum actualiter ter-
minatus (Der Anfang des Corpus der Frage 74).
Die Stellung des Objekte« im Erkenntnisvorgang 51
Oliyi leugnet nun allen ursächlichen Einfluß des Ob-
jektes auf das Subjekt. Umgekehrt muß er folgerichtig
letzteres als die Totalarsache des Aktes bezeichnen und im
Gegensatz zu den Aristotelikern, die neben dem Aktiven
das Passive der Erkenntniskräfte stark betonten*), die Ak-
tivität derselben auf die Spitze treiben 2). Überhaupt tritt
das subjektive Element bei Olivi sehr hervor. Das aber
ist der fundamentale Unterschied zwischen ihm und dem
modernen Subjektivismus, etwa dem Kritizismus, daß, wie
aus dem über den Erkenntnisbegriff Gesagten erhellt, bei
ihm das Subjektive rein psychologische Bedeutung im Sinn
des Entstehens der Erkenntnisse, bei Kant dagegen kritisch-
transzendentale Bedeutung im Sinn des Geltens hat ^). Passiv
sind die Fähigkeiten nur insofern, als sie ihre Akte in sich
aufnehmen. Man ist vielleicht versucht, an eine prästabi-
lierte Harmonie im Sinn von Leibniz zu denken, indes liegt sie
dem mittelalterlichen Denker völlig fern*).
Nehmen wir den Fall, daß eine Species memorialis im
Geist vorhanden ist, dann kann nach Olivi die Seele aus
sich allein den gesamten Erkenntnisprozeß einleiten und
durchführen. Innerhalb des Subjektes schließt sich der Kreis
der Kausalität. Das Objekt hat für die Erkenntnis eine
ähnliche Bedeutung wie der Terminus für die Relatio, darum
wird es auch ständig Terminus, Terminans, Causa termina-
tiva, gelegentlich auch Occasio genannt ^). Wie das Wesen
1} Arist., De anima, II 5, 12: III 4, 5; vgl. Baeumker, Witelo,
ß. 469ff.
2) Vgl. das darin liegende Platonisch-augustinische Element bei
Baeumker A. a. O. 467 ff.; Grabmann, Aqiiasparta, S. 73 ff., 95.
3) Vgl. M. Scheler, Die transzendentale und die psychologische
Methode, Leipzig 1900.
4) Vgl. Jansen, Leibniz erkenntnistheoretischer Realist. Bereits
Baumgartner, (Die Erkenntnislehre des Wilhelm v. Auvergne, S. 57)
hatte auf die Ähnlichkeit der Erklärung des Ursprungs der höheren
Erkenntnis seitens W. v. A. mit Leibniz hingewiesen, zugleich aber
den großen Unterschied betont. Olivi rückt, weil er allen Einfluß der
Sinnesdinge leugnet, Leibniz noch näher ; vgl. die Ausführungen im
9. Kap. S. 82 f.
5) Aquasparta berichtet von solchen Scholastikern, nach denen
52 6. Kapitel
der Relatio durch den Terminus innerlich nicht bestimmt
oder auch nur berührt, sondern durch das Hinweisen oder
Bezogensein des Gegenstandes auf denselben begründet
wird, so verhält sich nach Olivi das Objekt zur Erkenntnis :
der Akt wird spezifiziert durch sein inneres Hinweisen und
Sicherstrecken auf das Objekt. Formalis et intrinseca ratio
actus, qua formaliter terminatur in tali obiecto, est effective
et influxive ab ipso cognoscente (Lösung der 2. Objektion
in Frage 72). Quartus modus agendi et patiendi est, quando
agens agit intra se, dirigendo vim suam activam in obiectum
extrinsecum et etiam eo ipso aperiendo et applicando suam
potentiam passivam ad ipsum obiectum, acsi deberet illud
obiectum intra se capore. Et hoc modo immediatum prin-
cipium actionis apprehensivae vel volitivae agit intra poten-
tiam animae (1. Praenot. der Frage 72). Anderswo vergleicht
Olivi die Stellung des Objektes im Erkenntnisprozeß mit der
Causalitas finalis und gibt damit die vorhin gegebene Auf-
fassung in anderer Weise wieder: wie das Strebevermögen
sich zum Guten hinwendet, so die Erkenntniskraft zum
Wahren.
Freilich läßt sich dieser in sich unmögliche und den
Tatsachen widersprechende Standpunkt nicht durchführen
und so verdichtet sich unter der Hand die Occasio und der
Terminus zum vere Cooperans. Noch mehr, in den Ausfüh-
rungen, wo Olivi ex professo die Stellung des Objektes be-
handelt (4. Teil der Frage 72), macht er dessen Bedeutung
zu der einer Causa. So vereint er friedlich beide Seiten in
der endgültigen Prägung „Causalitas terminativa", wodurch,
wie Scotus ^) mit gewohntem kritischen Scharfsinn ausführt,
nichts erklärt, sondern nur etwas Unmögliches behauptet wird.
Beim erstmaligen Lesen der Causalitas terminativa ist man
geneigt^ in ihr einen plumpen Widerspruch, eine Contradictio
in terminis zu erbiicken. Eine sorgfältige geschichtliche
Betrachtung wird indes den Verfasser von einer solchen
logischen Ungeheuerlichkeit freisprechen. Der Begriff „Cau-
die Sinneswelt bloß eine gelegentliche Bedeutung für das mensch-
liche Denken hat (Grabmann, S. 76).
1) Sent. (Opus Oxon.), I d. III q. 7 Anfang.
Die Stellung des Objektes im Erkenntnisvorgang 53
salitas, Causa" wurde im dreizehnten Jahrhundert im wei-
teren Sinn genommen, etwa in der Bedeutung unserer deut-
schen Ausdrücke „ Vorbedingung, Voraussetzung, notwendiger
Umstand, Erfordernis, Veranlassung". So spricht Scotus an
der erwähnten Stelle von einer Causa sine qua non und
meint damit offenbar Conditio sine qua non. Diese Gleich-
stellung tritt besonders in den scholastischen Kommentaren zum
Anfang des vierten Sentenzenbuches zu Tage, wo über die
Causalitas Sacramentorum zu verhandeln war. So gebraucht
dort Bonaventura Causa sine qua non ganz wie Scotus und
stellt sie darum auch der Causa efficiens gegenüber. ^)
Legen wir indes nicht bloß den systematisch-kritischen,
sondern auch den geschichtlichen Maßstab an, so wird das
Werturteil milder lauten. Auch Aristoteles 2) bleibt trotz
seiner geistvollen Abstraktionstheorie, deren Linien er indes
nur allgemein zeichnet, die Antwort schuldig, wie denn nun
der Notjg Tcotoöv in Kraft treten könne, in welcher ursächlichen
oder nichtursächlichen Beziehung das Phantasma zu ihm
stehe. Thomas^) hat die spärlichen Andeutungen des Sta-
giriten genial weiter geführt, vor allem will er in dem kau-
salen Einfluß des Sinnenbildes auf den Verstand das nötige
Bindeglied zwischen Niederem und Höherem gefunden
haben. Wie sehr indes diese Annahme der Grundauffassung
Augustins, wonach Körperliches in keiner Weise auf Gei-
stiges einwirken kann^), widerspricht, liegt auf der Hand.
Und so hat Suarez ^), gewiß ein sehr selbständiger, be-
deutender Denker, um die in dieser Erklärung liegende
Schwierigkeit zu umgehen, an Stelle der Kausalität des
Phantasmas die Colligantia oder Sympathia der sinnlichen
und geistigen Erkenntniskräfte gesetzt, um so die Vermittlung
von jener auf diese zu erklären. Urteilen wir gar erst vom
Standpunkt der modernen Philosophie, so wird uns das Irren
Olivis noch verständlicher. Leibniz, gewiß einer der größten
1) Seilt., IV d. I p. I art. unicus q. 4 Conclusio.
2) Vgl. De anima, III 4 ff.
3) Besonders S. th , I q. 84—89.
4) De musica, VI 5; De gen. ad lit., XII 16, 19, 20.
5) De anima, lib. IV cap. 2 n. 7 sqq.
54 6. Kapitel
Denker, läßt gemäß seiner Theorie der Monadologie und
prästabilierten Harmonie die Erkenntnisse unabhängig von
aller äußeren Einwirkung entstehen. Trotzdem ist er Realist^).
Ähnlich sind Geulincx und Malebranche ungeachtet ihres
Okkasionalismus, gemäß welchem die Dinge nicht aufeinander
wirken, sondern nur von Gott beeinflußt werden, Realisten.
So können wir denn Olivis Irren verstehen und müssen trotz
der scharfen Abweisung seiner Ergebnisse doch die Energie
und Selbständigkeit seines Denkens anerkennen.
Ein Hauptgrund, warum er den Einfluß des Objektes
ablehnt, ist derselbe wie derjenige, den er so oft bei der
Verwerfung der Species anführt: jeder Erkenntnisakt ist ein
streng einheitlicher, der in sich zwei Formalitäten befaßt,
nämlich das subjektive, psychische Sein und das Darstellen
eines Objektes als ein Sichhinwenden auf etwas außer ihm.
Beide Formalitäten sind aber nicht reell verschieden, son-
dern bloß zwei verschiedene Seiten ein und derselben Entität.
Diese Einheit im Sein setzt aber auch eine einheitliche Kau-
salität voraus. Ginge darum der Akt teilweise vom Objekt aus,
so wäre es um diese Einheit geschehen. Überdies gehörte
der vom Objekt ausgehende Anteil nicht dem lebendigen
Ich an, wäre also nicht psychisch '-'). Trotz der Haltlosigkeit
dieser Beweisführung ist auch hier wieder der offene Blick
für das zugrunde liegende Problem anzuerkennen ; bei der
Verw-erfung der Species werden wir denselben kritischen
Zug wiederfinden.
Ein weiterer Beweis wird aus dem Selbstbewußtsein
genommen. Wenige Scholastiker berufen sich mit Augustin,
Descartes und andern Modernen so häuficr auf die Tat-
Sachen der inneren Erfahrung wie Olivi-^), häufig mit gutem
Erfolg. Hier schießt er über das Ziel hinaus. Er argumen-
tiert: unser Bewußtsein berichtet uns, daß die Akte von uns
ausgehen und uns angehören, also sind wir ihre Totalur-
sache. Der Trugschluß liegt auf der Hand: freilich sagt
1) Monadologie, n. 7, 11, 22 u. an zahlreichen anderen Stellen; vgl.
Jansen, Leibniz erkenntnistheoretischer Realist.
2) Vgl. Aquasparta, bei Grabmann, S. 77.
3) Vgl. Jansen, Ein neuzeitlicher Anwalt der menschlichen Freiheit.
Die Stellung des Objektes im Erkenntnisvorgang 55
uns die innere Erfahrung, daß die Akte von uns verursacht
sind, aber nicht, daß sie vollständig von uns ausgehen.
Ein dritter Grund für die Leugnung des Einflusses des
Objektes wird aus der Notvrendigkeit des Aspectus her-
genommen. Immer und immer wieder betont Olivi die Wichtig-
keit desselben. Sophistisch schließt er sofort: also genügt
der Aspectus.
In dieser ganzen Beurteilung der Bedeutung des Ob-
jektes spricht sich klar die philosophiegeschichtliche Stellung
Olivis aus. Er knüpft da offenbar an Augustinische Ge-
danken an, um sie schöpferisch weiter zu führen. So erklärt
er selbst in Frage 73 bei Aufstellung seiner These, welche
den Einfluß des Objektes bestreitet: relictis ergo duabus
partibus opinionis praemissae [sc. Augustini] tertiam [sc.
quod secundum Augustinum potentiae virtualiter attingunt,
ubi realiter non sunt] explicare et probationibus fulcire
intendo. Tatsächlich vollzieht sich bei diesem das höhere
Erkennen unabhängig von aller Einwirkung der existierenden
Sinnendinge ^), die Seele schaut im Lichte der göttlichen Ein-
strahlung die geistige Welt.
Philosophiegeschichtlich wäre es nun höchst interessant
und wissenswert zu erfahren, welches diese kleine Schar
wenig beachteter Scholastiker war, die diese Ansicht hielten :
quosdam etiam vidi, minoris tamen auctoritatis quam prae-
dicti, nämlich die Aristoteliker, heißt es in Frage 58 und
weiterhin: in quibusdam tamen omnino discordant ab omnibus,
wo man unter in quibusdam am besten die Leugnung des
Einflusses des Objektes zu verstehen hat, da sich in bezug
auf die anderen dort erwähnten Lehrpunkte kein solcher
Gegensatz zu „Allen" findet. Wer sind also die Zeitgenossen
Olivis, die allen Einfluß des Objektes auf die Erkenntnis-
fähigkeit leugneten und welches sind die historischen Vor-
bedingungen dieser merkwürdigen Theorie?
Nach dem jetzigen Stand der Forschung können wir die
erste Frage schwerlich beantworten. Olivi macht uns, wie
es scheint, zum erstenmal in überraschender Weise mit
1) Vgl. De gen. ad lit., XII 16 n. 19, 20, 32; De musica, YI 5
n. 8, 9 10, 12.
56 6. Kapitel
diesem eigenartigen Lösungsversuch im dreizehnten Jahr-
hundert bekannt und bezeugt damit aufs neue, daß innerhalb
der Hochscholastik weit mehr wissenschaftliche Differen-
zierungen und entgegengesetzte Strömungen vorhanden waren
als man bis auf die letzten Jahre glaubte.^)
Dagegen können wir die geschichtlichen Bedingungen
und Einzelmotive, aus denen die Olivische Ansicht naturge-
mäß hervorwuchs, mit Wahrscheinlichkeit aufdecken. Es
brauchte bloß die Lehre, daß das höhere Erkennen schöpfe-
risch aus dem Grunde der Seele entstehe, zu der parallelen
Annahme hinzugesellt werden, daß auch die Sinneserkennt-
nisse ohne ursächliche Beziehung zu den äußeren Gegen-
ständen, rein durch die Spontaneität des Subjektes zustande
kommen. Freilich geht Olivi in Frage 73 noch weiter und
stellt seine These nicht bloß für das Erkennen, sondern auch
1) Vgl. Baeumker, Die christliche Philosophie des Mittelalters,
S. 339 ff. ; Ueberweg-Baumgartner, S. 196 ff. Lehrreich ist, was Suarez
(De anima, lib. III cap. 1 n. 1, 2) über die Vorgeschichte dieser An-
sicht berichtet. Die Frage lautet: utrura ad actum cognoscendi ne-
cessaria sit coniunctio obiecti cum potentia. Es ist der Sache nach
dieselbe Problemstellung w^ie bei Olivi. In der ersten Nummer wird
die negative Ansicht mit zwei Gründen verteidigt, natürlich bloß im
Sinn der Gregner, obiectionis gratia. Primo, quia terminus actionis
non praerequiritur ad actionem, ut propterea debeat esse coniunctus
agenti, obiectum autem cognoscibile est terminus actionis, ergo. Se-
cundo, vel necessarium esset obiectum coniungi potentiae secundum
suum esse reale vel secundum illius similitudinem. Non prius, nam
intellectus cognoscit hominem, quem realiter intra se non habet; ac
de sensibus ait Aristoteles, quod super eos positum sensibile non causet
eensationem. Posterius etiam non videtur necessarium, cum fictitiae
videantur huiusmodi species. Das sind andere Beweisgründe als
bei Olivi.
In der folgenden Nummer bringt Suarez eine lange Liste von
Verteidigern dieser Lehre; er schickt voraus, daß es im Grunde die-
selben Philosophen seien, die auch die Species leugneten, was ja auch
bei Olivi vollauf zutrifft. Dann zählt er auf: quam opinionem tribuit
Galeno Gregorius Nyssenus libro De viribus animae cap. 2; Divus
Augustinus etiam libro De quantitate animae cap. 23. videtur sen-
tire visionem non fieri potentia aliquid recipiente. Idem tenet Se-
neca libro 1. Naturalium quaestionum ac tribuunt Piatoni Plotinus
Enneade 4. et Porphjrius libro De sensu. Es folgen die Nomina-
listen Occam, Biel, Durandus.
Die Stellung des Objektes im Erkenntuisvorgang 57
für jede andere Tätigkeit auf : an aliqua virtus cognitiva vel
quaecunque alia secundum suam essentiam exterius non
emissa possit ab extrinseco et distanti medio vel obiecto
absque eorum influxu mutari vel pati. Indes kommen hier
von dieser allgemeinen metaphysischen Auffassung nur die
Brkenntnisfähigkeiten in betraeht.
Daß nun das Enstehen der höheren Akte von verschie-
denen Scholastikern mit Berufung auf Augustin ^) restlos aus
der geistigen Zeugungskraft des Verstandes erklärt wurde, be-
richtet unsScotus, der Zeitgenosse von Olivi war. In der Haupt-
untersuchung über den Ursprung der Denkakte ^) zählt er in
der Reihe der ihm vorliegenden sechs Erklärungsversuche an
erster Stelle folgenden auf : in ista quaestione est una opinio,quae
attribuit totam activitatem respectu intellectionis ipsi animae;
et imponitur Augustino, qui dicit, es folgen die von Olivi
wiederholt zitierten Stellen De musica XII 16 und De
Trin. X 5. Mit Recht setzt die Venediger Ausgabe der
Werke des Doctor Subtilis vom Jahre 1680 daneben „Opinio
Henrici''. Tatsächlich vertrat Heinrich v. Gent bei seinem
durchaus konservativ gerichteten Augustinismus diese An-
sicht^). Längst vor ihm hatte Wilhelm v. Auvergne^), dem
Olivi auch in anderer Hinsicht verwandt ist, die Entstehung
der höheren Erkenntnis aus der ursächlichen Beziehung zu
dem Gegenstand losgelöst, wenn er der Sinneserkenntnis
nur die Aufgabe einer Conditio sine qua non, einer Veran-
lassung anwieß und die höheren Akte aus dem formgebenden,
schöpferischen Schoß des Intellectus materialis sich enwickeln
ließ 5).
Anders als mit der Verstandeserkenntnis stand es mit
1) Vgl. die vorhin erwähnten Stellen S. 55.
2) Sent. (Opus Oxon.), I d. III q. 7 Anfang; auch Suarez (De
anima, lib. III cap. 1 n. 3) berichtet von Vertretern dieser Ansicht;
außer Durandus und Joannes Baconius (der Karmelit und Averroist
Johann Baconthorp, vgl. Ueberweg-Baumgartner, S. 545 f.), Sent., II
d. 6 q. 1 wird Heinrich v. Grent zitiert.
3) Quodlib., IV q. 7; V q. 14; XI q. 5; XIII q. 11 ; vgl. de Wulf,
p. 89 sqq.
4) De anima, VII 3, 4; Baumgartner, S. 48 ff.
5) Baumgartner, S. 56f. ; vgl. Kap. 9 S. 82 f.
58 6. Kapitel
der sinnlichen. Für diese hatte Augustin ausdrücklich
Species oder eine Einwirkung, die vom Gegenstand aus-
geht, verlangt ^). Und doch war mit der Konsequenz seiner
Theorie der Erklärungsversuch gegeben, jeden ursächlichen
Einfluß des Objektes zu leugnen. Einmal lehrte nämlich
Augustin, daß jeder vitale Akt als solcher nur von der ein-
fachen Seele vollzogen würde und daß das sinnliche Er-
kennen nicht sowohl ein Wahrnehmen des äußeren Ge-
genstandes als ein Aufmerken der Seele auf die durch
ihn im eigenen Körper vollzogene Veränderung sei*). So-
dann lehrte er mit den Piatonikern ein förmliches physi-
sches Wandern der Erkenntniskraft zum wahrgenommenen
Gegenstand 3). Um diese Unmöglichkeiten, auf die Olivi
wiederholt kritisch hinweist, zu beseitigen, lag es für einen
getreuen Schüler Augustins, der an dessen Grundgedanken
von dem Vorgang der sinnlichen Erkenntnis als eines rein
seelischen Geschehens festhielt und überdies eine harmo-
nische, einheitliche Erklärung für das sinnliche und höhere
Erkennen geben wollte, nahe, ersteres nach Analogie des
letzteren zu fassen und vollen Ernst mit dem Augustinischen
Prinzip^) zu machen, daß Körperliches in keiner Weise auf
Geistiges einwirken könne. Dann aber ergab sich mit Not-
wendigkeit die Unabhängigkeit der Sinneserkenntnis als eines
rein seelischen, einfachen Aktes von allem ursächlichen
Einfluß des äußeren Objektes, wie es Olivi lehrte. Damit
war der Augustinische Aktivismus der Seelentätigkeiten zu
einem abgerundeten System ausgebildet.
Ganz dieselbe Tendenz lag in der Theorie Piatons, wie
sie darum auch von manchen Neuplatonikern durchgeführt
zu sein scheint^). Zu diesen spezifisch psychologischen
Motiven gesellte sich bei letzteren noch ein allgemeineres,
1) De muBica, VI 5; De Trin., XII 2.
2) De rausica, VI 5.
3) De quant. animae, VI 2, 3; De rausica, VI 8; De gen. ad lit.,
IV 34; I 16; De Trin., IX 3.
4) De musica, VI 5; De gen. ad lit., XII 16, 19, 20; De Trin., X
5; Oonfees., XIII 2.
5) Vgl. Suarez, De anima, üb. III cap. 1 n. 2 : tribuunt hanc opi-
nionom Piatoni Plotinus (Enncade 4) et Porphyrius (De Bensu).
Die Stellung des Objektes im Erkenntnisvorgang 59
metaphysisches, das möglicher Weise in derselben Richtung
arbeitete, wenngleich die Tatsächlichkeit seiner Einwirkung
bislang noch nicht nachweisbar ist^). Der Liber de causis*)
stellt nämlich die Seele, als am Horizont der geistigen oder
ewigen und der sinnlichen oder veränderlichen Welt befind-
lich, jenseits der Zeit, also indirekt auch jenseits des Raumes.
Was lag da näher, als aus diesem so beschaffenen Sein
auch auf ein entsprechendes Handeln zu schließen, oder die
psychologischen Folgerungen aus diesem metaphysischen
Prinzip abzuleiten? Dann aber ist der Mensch in seinem
Erkennen unabhängig vom Wandel der Sinneseindrücke,
ebenso wie er in seinem Sein jenseits der Veränderlichkeit
von Zeit oder Bewegung steht.
Diese letzte philosophische Betrachtung leitet zu theo-
logischen Gesichtspunkten über, die, weil im Gesamtbewußt-
sein der damaligen Zeit liegend, zu der Ausbildung der von
Olivi vorgetragenen Lehre bewußt oder unbewußt beigetragen
haben dürften. Wir sagten, diese Erwägungen hätten im Gesamt-
bewußtsein gelegen; vor allem deshalb, weil sie, wie gleich
zu zeigen ist, außer bei einem so angesehenen, viel zitierten
Scholastiker des zwölften Jahrhunderts, wie es Hugo v. St.
Victor war, auch in dem Werk, welches schlechthin das theolo-
gische Lehrbuch jener Zeit war, welches dem mündlichen Unter-
richt zu Grunde lag und immer und immer wieder in schrift-
lichen Erzeugnissen kommentiert wurde, in den Sentenzen
des Petrus Lombardus, ihren Eingang gefunden hatten.
Hugo V. St. Viktor^) und der Lombarde^) behandeln nämlich
den Zustand des ersten Menschenpaares im Stande der
Gnade vor dem Sündenfall und lehren, daß Adam sowohl
die sinnliche als die geistige Welt unmittelbar durch einge-
gossenes Wissen schaute. Von diesen übernahm u. a. Wilh.
1) Vgl. hierüber Baumgartner, Die Erkenntnislehre des Wilh.
V. Auvergne, S. 18 ff.
2) § 2 S. 165 : esse autem, quod est post aeternitatem et supra
tempus, est anima, quoniam est in orizonte aeternitatis inferius et supra
tempus.
3) De sacramentis, lib. 1. pars 6 cap. 12, 14; vgl. Stöekl, Gesch.
d. Phil. d. Mittelalters, 1. Bd. S. 339.
4) Sent, II d, 23 n. 2, 3; vgl. Stöekl, S. 409.
60 6. Kapitel
V. Auvergne ^) diesen Gedanken. Damit war vom theolo-
gischen Standpunkte aus die Möglichkeit einer Erkenntnis
von Außenobjekten ohne deren ursächlichen Einfluß gegeben.
Bei der engen Verbindung von Theologie und Philosophie
im Mittelalter oder besser bei der einheitlichen philosophisch-
theologischen Lebensanschauung der christlichen Scholastiker
konnten sich nun leicht spezifisch theologische Betrachtungs-
punkte, wenn auch unbewußt, in rein philosophischen Ab-
leitungen, die aus ganz andern Quellen flössen, geltend
machen.
Damit dtirften wir die geschichtlichen Entstehungsgründe
und psychologischen Voraussetzungen dieser merkwtlrdigen
Lehre, wie sie bei Olivi auftritt, aufgezählt haben. Daß er sie in
ihrer wesentlichen Ausgestaltung bereits bei andern vorfand,
sagt er ausdrücklich. Wir sind aber um so mehr genötigt,
diese Bezeugung trotz der sonst oft angewandten Diplomaten-
künste hier wörtlich zu nehmen, weil er sich anderswo, wo er
offenbar eine ganz neue Ansicht vorträgt, wie z. B. in bezug
auf das Verhältnis von Leib und Seele (q. 51), auf keine
andern Autoren beruft, sich vielmehr für sie als sein eigenes
Geisteskind einsetzt.
Offenbar hat Scotus^) die Ansicht, wie sie Olivi vertritt,
im Auge, — ob er diesen selbst meint, läßt sich bei dem
Takt der mittelalterlichen Scholastiker, die Zeitgenossen nicht
mit ihrem TsTamen zu nennen, nicht mit Sicherheit entscheiden,
wahrscheinlich ist es Olivi, zumal Scotus sein Mitbruder war
und seine Informationslehre in eindeutiger Bestimmtheit
wiedergibt^) — , wenn er in der Frage: utrum pars Intel-
lectiva vel aliquid eins sit causa gignens vel ratio gignendi
notitiam actualem*) als ersten Lösungsversuch anführt: in
ista quaestione est una opinio, quae attribuit totam acti-
vitatem respectu intellectionis ipsi animae et imponitur
Augustino. Nach ihrer Widerlegung folgt eine Instantia,
1) De univ., II p. III c. 21 ; De an., VII 6; VI 33; V 15, 17; vgl.
Baumgartner, S. 18 ff.
2) Sent. (Opus Oxon.), I d. III q. 7 Anfang.
3) De rerum principio, q. 9 a. 2 sect. 1 n. 16; q. 11 a. 2 n. 6, 7.
4) A. a. O. des Opus Oxon.
Die Stellang des Objektes im Erkenntnisvorgang 61
die ebenfalls abgelehnt wird: fugere autem ad causam sine
qua non — offenbar gleich conditio sine qua non — , quae
requiritur ad hoc, ut notitia gignatur, hoc est dicere, quod
omnes per se causae non sunt sufficientes causae, sed re-
quiritur aliquid aliud, a quo res causanda dependet essen-
tialiter. Ergo non erunt tantum quatuor causae . . . vel ali-
quid dependebit essentialiter ab aliquo, quod non est causa
eins . . . Per hoc etiam improbantur diversi modi ponendi
tenentium istam opinionem: sive enim ponatur obiectum
necessarium in ratione causae sine qua non vel in ratione
termini vel in ratione excitantis, si non detur sibi aliqua per
se causalitas, cum ipsae per se causae sint perfectae in se
et approxiraatae et omne impedimentum remotum, quomodo
salvabitur, quod ipsum necessario requiratur, nisi ponendo
quinque genera causariim? Das sind offenbare Anspielungen
an die Ausdrücke Occasio, Terminus et Terminatio, Causa-
litas terminativa als fünfte Ursächlichkeit, an die Zurück-
führung dieser Theorie auf Augustin, wie sich das alles in
der Ansicht Olivis vorfindet.
Diese Theorien über die Stellung des Objektes werden
ex professo in Frage 72 entwickelt. So heißt es in der
zweiten Vorbemerkung im Anfang der Frage : licet obiectum,
pro quanto solum terminat aspectum virtutis cognitivae et
suae actualis cognitionis, non habeat simpliciter et proprie
rationem efficientis, quia formalis terminatio praedicti aspec-
tus non est aliqua essentia realiter differens ab ipso aspectu
et saltem non est influxa vel educta ab obiecto : nihilomi-
nis potest large connumerari inter causas efficientes . . .,
quia virtus activa potentiae cognitivae sie necessario eget
tali termino et eins terminatione ad hoc, quod producat actum
cognitivum, acsi praedictus terminus influeret aliquid in
ipsam vim cognitivam et in eins actum. Tale autem efficere
non est ibi secundum rem aliud quam vim activam absque
tali termino et terminatione non posse agere suum actum
et posse hoc cum ipso, ita quod intrinseca et formalis ter-
minatio virtutis activae est vere coefficiens actionem ipsius
virtutis.
Im vierten Teil der Frage 72, quomodo obiectum, in
62 6. Kapitel
qnantum terminat aspectns et actus potentiarum, cooperatur
speeificae productioni eorum, wird die Stelle gebracht, die
bereits im fünftem Kapitel zitiert wurde. ^) Im Zusammen-
hang damit erwähnt Olivi das Beispiel, das häufig wieder-
kehrt: sicut enim actualis irradiatio vasis sphaerici vel qua-
drati fit sphaerica vel quadrata ex hoc solo, quod lux generat
illam cum conformitate ad figuram sui suscipientis et con-
tinentis, sie quia vis cognitiva generat actum cognitivum
cum quadam informativa imbibitione actus ad obiectum et
cum quadam sigillari et viscerali tentione obiecti, idcirco
eo ipso, quod sie gignitur, fit ipse similitudo et sigillaris ex-
pressio obiecti. Et ex hoc est, quod simplex essentia actus
cognitivi habet in se duas nobiles rationes, quarum prior
est quasi fundamentalis ad secundam et secunda est quasi
differentialis determinatio primae. Ex hoc enim, quod actio
cognitiva exit a spirituali luce principii cognitivi, habet^ quod
Sit quaedam lux et quasi quidam radius analogice similis
suo principio, a quo fluit. Ex hoc vero, quod est talis ob-
iecti seu in tali obiecto terminatus et fixus, habet, quod sit
eius expressiva visio seu cognitio et simillima imago . . Et
haec ratio se habet ad primam sicut articulatio vocis se
habet ad suam rationem generalem, qua est sonus. Si autem
obiectum influeret hanc secundam rationem et vis cognitiva,
quaecunque illa sit, influeret primam : tunc essent neces-
sario duae essentiae diversae et diversorum generum et
specierum, essent etiam duae actiones a duobus principiis
diversorum generum factae . . . Supposito igitur, quod hae
duae rationes non sint duae essentiae realiter distinctae,
sed solum una, tunc ambae fiunt a vi cognitiva sicut ab
agente et iterum ambae fiunt ab obiecto sicut a terminante . . .
Potest autem causa obiectiva proprio poni in genere causae
finalis aut, si propriori nomine vis eam vocare, vocetur causa
terminativa. Sicut enim causa materialis habet vere ratio-
nem causae respectu educti ex ea vel recepti in ea, quam-
vis non sit proprio causa efficiens eius : sie causa termina-
tiva habet vere rationem causae, quamvis non sit proprio
causa efficiens actionis terminatae in ipsa.
1) S. 42 f.
Die Stellung des Objektes im Erkenntnisvorgang 63
Die Darlegungen im ersten Teil von Frage 74 tiber die
Notwendigkeit der stellvertretenden Species memoralis in
Abwesenheit des Gegenstandes, wie sie hier mit vier Gründen
ausführlich nachgewiesen und sonst noch häufig berührt
wird, werfen neues Licht auf die Bedeutung des Objektes:
primo, quia omnis aspectus ad obiectum directus terminatur
necessario in aliquo ; sed cum cogitamus aliquam rem, quae
non est actu aut, si est, non est nostro aspectui praesens,
tunc aspectus non potest figi et terminari in illa. Ergo oportet,
quod aliqua rei imago obiciatur tunc aspectui et terminet
ipsum. Secundo, quia si nullius obiecti praesentia est ad
actum cognitivum necessaria, tunc non indigemus conver-
tere potentiam et eins aspectum ad aliquid, immo absque
omni conversione et absque omni aspectu cogitabimus hoc;
constat autem assiduo experimento hoc nos non posse . . .
Quarte, quia potentia non habet ex se sola exprimere et
repraesentare sua obiecta, quia tunc sua essentia absolute
sumpta esset propria et expressa similitudo omnium obiec-
torum ab ea possibilium cognosci vel cogitari; quod est im-
possibile. Ergo oportet quod aut obiectum se praesentet ei
ÄUt quod in aliqua imaginatione ei repraesentetur.
7. Kapitel.
Die Verwerfung der Spezies.
Frage 74 und der Anhang zur Lösung der 13. Objektion
in Frage 58 behandeln ausführlich dieses Lehrstück.
Das ganze hierhergehörige öedankenraaterial läßt sich
erschöpfend unter folgenden Gesichtspunkten zusammen-
fassen^).
Erstens: Die Spezies sind überflüssig. Das ergibt sich
aus der Natur der Erkenntnis. Wenn sich die erkennende
Fähigkeit und das Objekt in genügender Nähe gegenüber-
stehen — man erinnere sich hier an Olivis naiven Stand-
punkt — , braucht es bloß des Aspectus, um dasselbe zu er-
fassen. Ist es nicht physisch gegenwärtig, so wird es durch
die Species memorialis ersetzt; diese aber ist nicht die ver-
mittelnde Wirk- und Formalursache, sondern der Terminus
der Erkenntnis.
1) Die kritischen Ausführungen Olivis decken sich großenteils
mit den Gründen der JNTorainalisten gegen die Spezies: Aureolus, Sent.,
II dist. XXXV pars II art. 4 ; Sent., I dist. IX art. 1 ; vgl. Drei-
ling, Der Konzeptualiaraus des Petrus Aureoli; Durandus, Sent., II
dist. III quaest. 6; Occam, Sent., I dist. 27 quaest. 2; vgl. Kugler, Der
Begriff der Erkenntnis bei W. v. Ockham ; tlber die genannten I^omina-
listen siehe Stöckl, Gesch. d. Philos. des Mittelalters, 2. ßd. S. 9r5ff.;
Baeumker, Diechristl. Philosophie des Mittelalters, S. 419; auch Aqua-
Sparta (Quaestiones disput., p. 2808qq.) berichtet über die Gegner der Spe-
cies, die ähnliche Einvrändo vorbrachten wie Olivi ; vgl. Grabmann, Die
Erkonntnislehre des Aquäsparta, S. 77; Heinrich v. Gent leugnet die
Species intelligibiles (Quodl., XIII q. 11 ; XI q. 5; V q. 14); siehe
über ihn de Wulf, ifitudes sur Henri de G and, p. SQsqq. ; nach Witelo
können die Intelligenzen ohne Species erkennen, ebenso können all-
gemein abstrakte Wahrheiten ohne sie erkannt v^^erden (Baeumker,
Witelo, S. 487 ff., 550 ff.); vgl. Suarez, De anima, lib. III eap. 2.
Die Verwerfung der Spezies 65
Zweitens: Wenn die Fähigkeit eine Spezies bildete, so
wäre diese selbst der Gegenstand ihres Erkennens und nicht
das Außenobjekt; oder aber wenn auch dieses obendrein er-
kannt würde, so würde das Ding zweimal gesehen, einmal
in der Spezies und zweitens in sich selber, zudem würde
es im letzten Fall ohne Spezies erkannt. Mit andern Worten:
alles Psychische ist bewußtes, erkanntes Sein, ist Gegen-
stand und nicht Mittel der Erkenntnis. Es gibt kein medium
quo, das selbst nicht erkannt die Erkenntnis zu vermitteln
hätte, jedes Medium wäre Medium quod d. h. erkannter
Gegenstand ^).
Drittens: Die Spezies müßte einerseits vom Objekt aus-
gehen, weil sie dasselbe der Fähigkeit vergegenwärtigen
und diese in die notwendige Beziehung zu demselben
setzen soll; anderseits müßte sie auch vom Subjekt ausgehen,
weil sie den Erkenntnisakt vorbereiten und einleiten soll,
da sie als die unmittelbare Formalursache des Erkennens
etwas Vitales und Physisches sein müßte. Dieser Dualismus
hebt aber die Einheit des Aktes auf, von dem uns unser Be-
wußtsein berichtet, wenn es das Aktsein und die Hinwen-
dung zum Objekt in vollständiger Durchdringung erfaßt.
Noch mehr: die Spezies würde eher auf Seiten des Ob-
jektes als des Subjektes stehen; daraus würde sich die
widersinnige Behauptung ergeben, daß das Erkennen kein
lebendiger Vorgang sei.
Viertens : Ebenso gut und schnell wie die Fähigkeit die
Spezies, kann sie auch den vollständigen Akt hervorbringen;
ein Gedanke, der häufig wiederkehrt und im Grunde auf
die erste und zweite Erwägung hinausläuft. Das Subjekt
wird nämlich die Excitatio obiecti entweder bemerken oder
nicht. Bemerkt es sie nicht, so nützt diese Excitatio oder
Species impressa für die Erkenntnis des Gegenstandes nicht»
und stellt keine Beziehung der Erkenntniskraft zu demselben
her. Bemerkt es sie aber, so kann es ebenso leicht und un-
mittelbar den Gegenstand bemerken wie diese Excitatio selbst,,
ohne daß eine andere Excitatio vorauszugehen hätte.
1) Vgl. Thomas, S. th., q. 85 a. 2; Peech-Frick, Institutiones Lo-
gicae et Ontologicae, n. 489, 512, 597.
5
66 7. Kapitel
Fünftens: Die Spezies müßte, wenn sie die Erkenntnis
einleiten sollte, dem Objekt ähnlich sein, zumal zwischen
Ursache und Wirkung stets eine Ähnlichkeit besteht. Damit
ist aber die genannte Spezies bereits die Erkenntnis und
Darstellung des Objektes selbst oder im Sinne Augustins die
Spezies in acie intelligentiae als Similitudo obiecti. Ist sie
aber dem Gegenstand nicht ähnlich, sondern nur ein Symbol
oder irgendwelche Wirkung desselben, so kann sie die abbil-
dende Erkenntnis oder das intentionale Bild des Dinges nicht
vermitteln.
Sechstens : Manche Vertreter der Spezies — Olivi hat hier
ganz bestimmte, teilweise sehr eigenartige, zu seiner Zeit
aufgestellte Theorien im Auge — nehmen an^ geistige Enti-
täten gingen vom Objekt durch das Medium zum Erken-
nenden hin. Indes kann ein materielles Medium unmög-
lich Träger von Immateriellem sein. Die Vertreter ausge-
dehnter, körperlicher Spezies dagegen können nicht er-
klären, wie diese das Prinzip einfacher, unausgedehnter
Akte sein können, wie es doch das Erkennen ist. Außerdem
müßten unendlich viele Spezies zwischen dem in der Ferne
beobachteten Gegenstand und dem Beobachter erzeugt werden,
was bei der Unmöglichkeit des Numerus infinitus ausge-
schlossen ist.
Siebtens: Die Spezies müßten der erkennenden Fähig-
keit entweder untergeordnet oder nebengeordnet d. h. ent-
weder Causa Instrumentalis oder principalis des Erkenntnis-
aktes sein. Im ersten Fall bestände die Aufgabe der Causa
principalis darin — hier macht sich die öfter wiederkeh-
rende, Olivi eigentümliche, merkwürdige Auffassung von dem
in sich gewiß dunklen Verhältnis der Causa Instrumentalis
zur principalis geltend — , die Causa instrumentalis zur Tä-
tigkeit anzuregen, während diese unmittelbar den Gegen-
stand zu erfassen hätte, mithin ginge der Akt nicht so sehr
von der Erkenntniskraft als von der Spezies aus. Im zweiten
Fall aber erkennt die Fähigkeit ohne Spezies, überdies wäre
wiederum die Spezies das Erkenntnisobjekt. In jedem Fall
hätte man zwei getrennte Handlungen, während doch das
Erkennen eine einheitliche ist.
Die Verwerfung der Spezies 67
Achtens : Speziell ist die Aristotelische Theorie des Her-
ausarbeitens der geistigen Species aus den sinnlichen Phan-
tasiebildern durch den Intellectus agens aus einem drei-
fachen Grund unmöglich. Die Einfachheit der Spezies, die
von ihrem Wesen untrennbar ist, kann nur von derjenigen
Ursache ausgehen, die die Spezies selbst hervorbringt, also
nicht vom Phantasma als Konprinzip. Dasselbe gilt von der
Vitalitas et intellectualitas, wie bereits vorhin gezeigt wurde.
Endlich spricht die Autorität Augustins dagegen: wenn er
auch für die Sinne einen realen Einfluß des Objektes und
der Spezies annimmt, so doch nicht für das höhere Erkennen,
wofür viele Stellen erbracht werden ^).
Bemerkenswert ist, daß Olivi noch nicht aus der Öko-
nomie des Denkens argumentiert und deshalb die Spezies
verwirft, wie es später Occam tat: species neutro modo dicta
est ponenda in intellectu, quia nunquam ponenda est plu-
ralitas sine necessitate ^). Dasselbe Prinzip von der möglichst
geringen Anzahl der Realitäten spricht Aureolus aus und
verwirft deshalb die Species oder „Forma specularis" ^). Vor-
her hatte es bereits Heinrich v. Gent ausgesprochen^).
Die systematische Bedeutung dieser kritischen Bedenken
liegt in der kräftigen Hervorhebung der Schwierigkeiten und
Dunkelheiten, die der Theorie der Spezies anhaften. Frei-
lich wird Olivi ihrem Grundgedanken nicht gerecht, wie
er ihn selbst im Anfang der Frage 74 klar wiedergibt.
Nach dieser Aristotelisch-thomistischen Auffassung, die das
Richtige treffen dürfte, hat die Spezies einmal die Aufgabe,
der Indifferenz der Erkenntniskraft für all ihre Objekte die
Richtung auf einen eindeutig bestimmten Gegenstand zu
geben, sodann vor allem die Funktion, die Fähigkeit in reale
Beziehung zu demselben zu setzen, die mit der örtlichen
Gegenwart noch nicht gegeben ist. Sehr gesund ist vor
1) De. Trin., IX 11, 12; XI 1, 6, 7; XII 15; XV 3, 10-15.
2) Sent., I dist. 27, quaest. 2 K.
3) Sent., I dist. IX art. 1 ; Sent., II dist. XXXY pars II art. 4.
Dreiling, Der Konzeptualismus des Aureoli, S. 205.
4) Quodl., V 14; XIII 11; de Wulf, Etudes sur Henri de Gand, p.
91 sqq.
68 7. Kapitel
allem die Kritik Olivis an jenen Formen der Spezies-Theorie,
wie sie ihm bei manchen seiner Vorgänger und Zeitgenossen
entgegentraten. So bekämpft er unter anderm die Er-
klärung: quod species non habeat esse reale seu naturale,
sed tantum intentionale : quod in quolibet puncto aeris sit
species simplex et spiritualis (73. Frage, 2. Teil). ^)
Größer als die systematische Bedeutung der Stellung-
nahme Olivis zu den Spezies ist ihr geschichtlicher Wert.
Die Ablehnung und Ausschaltung der Species impressa hat man
bislang als eine den Nominalisten des vierzehnten Jahrhunderts
eigentümliche Lehre angesehen. Occam ist ihr Haupt Vertreter,
Durandus und Aureolus waren ihm vorausgegangen^). Nun-
mehr sehen wir, wie sie bereits im dreizehnten Jahrhundert
bodenständig ist. Aus den Berichten des Aquasparta^j ergab
sich das schon im allgemeinen. Weiterhin kennt Witelo ein Er-
kennen ohne Spezies: „Die Vernunft der Intelligenzen be-
darf zum Erkennen nicht der voq außen aufgenommenen
Spezies''*). Ganz unzweideutig hat Heinrich v. Gent die
Spezies intelligibiles verworfen, während er die Sinnes-
1) Vgl. über die Species-Lehre Roger Bacoii. De multiplicatione
specierum und De scientia perspectiva ; über ihn C. Longwell, The
theory of raind of R. Baeon, Straßburger Dissertation 1908; E. Vogl,
Die Physik R. Bacons, Erlangen 1906: Bonaventura, Itinerarium mentis
cap. 2 n. 4: Grosseteste, De lineis, angulis et figuris (ed. Baur, Die
philosophischen Werke des Grosseteste) ; über ihn Baur, Die Philo-
sophie des Grossoteste, S. 99 f. ; über Alhazen siehe Bauer, Die Psycho-
logie Alhazens, S. 27 f. : über Witelo Baeuraker, S. 476ff., 617; Hein-
rieh V. Gent, Quodlib. IV 21 : über ihn de Wulf, fitudes zur Henri
de Gand, p. 78 sq. Heinrich v. Gent erklärte die species sensibiles
in folgender Weise : notanduni circa progressum hunc notitiae, quod
i^ensibile, puta color, primum esse naturale habet in obiecto suo et est
in potentia activa, ut intentionaliter sibi simile generet in medio et a
medio in organo visus, secundura tarnen actum lurainis . . ., quo (lumino)
praesente color facit speciem impressam in medio sibi contiguo, quae
continue generatur et diffunditur . . . per totum medium usque ad
Organum visus, in quo species recipitur ab aere sibi contiguo et for-
matur per ipaam visio (Quodlib.. IV 21); vgl. Suarez, De anima, lib.
III cap. 2.
2) Vgl. die Anmerkung im Anfang dieses Kapitels S. 64.
3) Quaest. disp., q. 3; vgl. Grabmann. S. 77.
4) Baeumker, Witelo, S. 490.
Die Verwerfung der Spezies
tätigkeit durch Spezies, die vom äußeren Objekt ausgehen,
bewirkt sein läßt *). Olivi scheint nun der erste uns bekannte
Scholastiker des dreizehnten Jahrhunderts zu sein, der jeg-
liche Art von Spezies, die intelligibiles und sensibiles, ver-
wirft. Indes legen seine überaus reichen Ausführungen und
verschiedenartigen Gesichtspunkte den Schluß nahe, daß er
auch aus andern Autoren geschöpft hat.
Am Schluß dieses Kapitels mögen wieder einige Beleg-
stellen folgen.
Superflue ponitur eam generare, quia qua ratione per
suam nudam essentiam poterit generare hanc speciem, eadem
ratione poterit per solam se ipsam generare actum (q. 74,
4. Punkt). Species non exigitur ad repraesentandum ob-
iectum et tamen hoc est illud, pro quo magis videbatur exigi.
Quod autem ad hoc non exigatur, probatur. Primo, quia
obiectum praesens aspectui in ipsum converso et intento
sufficienter se praesentat per se ipsum, immo et melius
quam per aliquam speciem creatam, ab eins solida entitate
et propria veritate deficientem, Secundo frustra ponitur
species repraesentans obiectum aspectui, nisi aspectus in-
tendat in ipsam, intendere autem in ipsam est idem quod
aspicere eam tamquam obiectum primum, quod respectu
actus cognitivi potius habet rationem termini seu termina-
tivi quam principii effectivi. Tertio, quia aut aspectus sie
intendit in speciem, quod non transeat ultra ad aspiciendum
obiectum aut sie, quod transeat altra. Si primo modo, ergo
res non videbitur in se, sed solum videbitur eins imago, ac-
si esset ipsa res . . .; si secundo modo, scilicet quod tran-
seat ultra, ergo post inspectionem speciei inspiciet obiectum
adhuc in se ipso et sie cognoscet ipsum duobus modis . . .
Quarte, quia ex quo haec species ponitur in acie tamquam
ipsam informans et tamquam radicale principium actus cog-
nitivi, ergo quando acies convertet suum aspectum ad eam,
reflectet se potius ad se et ad sua interiora quam protendat
se versus extrinsecum obiectum; ergo per hoc potius aver-
1) Quodlib., III q. 11; XI q. 5; Vq. 14; siehe de Wulf, Müde»
zur Honri de Grand, p. 269 sqq.; die Species sensibiles behandelt Hein-
rich im Quodlib., lY q. 21 ; siehe de Wulf, p. 78 sq.
70 7. Kapitel
tetur a videndo obiectum quam ducatur ad videndum ob-
iectum (q. 74, 5. Punkt).
Q. 58 zeigt im 3. Punkt der Lösung der dreizehnten
Objektion, daß aus der Potentia und Species keine Ein-
heit hervorgehen kann: quia cum actus intelligendi et
sentiendi sint simplices et ad minus non sint compositi ex
essentiis diversarum specierum et generum et multo minus
sint compositi ex diversis actionibus, cum actio non sit tale
ens, quod cum alia actione possit proprio concurrere ad
constituendam unam tertiam essentiam, non possint autem
esse partim a potentia et partim a speciebus, quin haec omnia
contingant, quia tunc unam partem accipient a potentia et
aliam a speciebus. Porte dicetur, quod species exigitur
tamquam quaedam dispositio ipsius potentiae . . . aut poterit
dici, quod species exigitur ad repraesentandum obiectum . . .
aut forte dicetur, quod potentia habet rationem principalis
seu remoti agentis . . ., species vero rationem agentis proximi
et immediati. Sed contra primum ... in viritutibus non exi-
gitur ad aliud dispositio nisi ad coaptandum oas ad agendum
debite et expedite . . ., sed species non dicit tale, cum non
dicat nisi solam similitudinem obiecti. Secundum improbant
sie: si species non exigitur ad producendum actum sed solum
ad repraesentandum obiectum, ergo secundum hoc ipsa non
erit aliquo modo principium effectivum ipsius actus et ita
sola« potentia erit totale principium eins; sed principio effec-
tivo totali praesente cum patienti et obiecto semper potest
sequi actus, obiectum autem tunc est praesens potentiae,
quando potentia habet aspectum praesentialiter conversum
et fixum super ipsum. Tertium autem sie improbant: quia
cum omne principalo agens habeat actionem propriam, per
quam movet agens instrumentale . . ., tunc oportebit, quod
potentia, quae hie ponitur pro agente principali, habeat ali-
quam actionem, per quam movet ipsam speciem ad actionem
immediate eliciendam . . .; haec autem esse non possunt,
quia primus et proprius actus potentiae est apprehensio
seu cognitio. Sextum autem, quod sc. potentiae non possint
excitari ab obiectis ad generandum huiusmodi species . . .,
sie probant: aut anima advertit et sentit istam excitationem
Die Verwerfung der Spezies 71
ant non; si non sentit, non videtur, quod per hoc ad agen-
dum excitetur; si autem sentit et advertit, ergo prius appre-
hendit huiusmodi excitationem quam ipsum obiectum, et etiam
sequitur, quod per se absque alia exoitatione fuerit potens
ad generandum in se actum, per quetiai adverteret et sentiret
huiusmodi excitationem. . . Praeterea aut una istarum yirtutum
esset principalis et altera instrumentalis aut ambae essent
principales; neutro autem modo videtur hoc posse fieri, quia
tunc oportebit, quod ibi sint duae actiones diversae, quarum
una sit immediate a principali virtute, altera vero ab in-
strumentali.
Gegen die Irradiatio phantasmatum seu formarum corpo-
ralium per intellectum agentem, um die Species impressae
in intellectu possibili hervorzurufen, wird in der Widerlegung
der 9. Supprobatio der 13. Objektion Folgendes ausgeführt,
wobei Olivis Theorie vom Zusammenwirken von der Causa
instrumentalis und principalis klar hervortritt: quaerunt isti,
an species intellectuales generentur ex istis formis sicut ex
materia aut sicut ex causa efficiente. Im ersten Fall würde
folgen, quod formae corporales seu imaginariae fierent ma-
teria specierum ex se [eis] genitarum et quod essent in
eadem potentia intellectuali cum his. Im andern Fall müßte
die Irradiatio intellectus agentis mit den Phantasmata zu-
sammenarbeiten aut per modum principalis agentis aut per
modum instrumenti aut per modum dispositionis determi-
nantis ipsas formas ad suos actus. Si per modum principalis
agentis, ergo cooperabitur ad hoc movendo ipsas formas ad
productionem huiusmodi specierum. Quod quanta et qualia
inconvenientia in se implicet, satis de se patet. Si per modum
instrumentalis agentis, ergo ipsae species immediate produ-
cuntur ab ea, ab ipsis formis autem mediate. Et tunc opor-
tebit, quod moveatur ab ipsis formis sicut instrumentum
movetur a causa principali. . . Si vero per modum dispo-
sitionis determinantis seu sublimantis ipsas formas ad suos
actus, tunc huiusmodi lumen irradiatum erit magis determi-
natum et appropriatum ad productionem huiusmodi specierum
quam sint ipsae formae.
8. Kapitel.
Das virtuelle Berühren des Gegenstandes.
Wenn nach dem Gesagten das Objekt weder unmittel-
bar noch durch Vermittlung von Species ursächlich bestim-
mend in den Erkenntnisprozeß eingreift, dann muß alle
Wirksamkeit vom Subjekt ausgehen. Im Gegensatz zu
Aristoteles^) und seinen Anhängern, die das Passive der
Erkenntnisfähigkeiten und namentlich der sinnlichen stark
betonen, hebt Olivi in Übereinstimmung mit Augustin ^) das
Aktive derselben hervor. Rein psychologisch und nicht
kritisch genommen, erinnert die Aktivität des mittelalterlichen
Denkers unwillkürlich an die Spontaneität Kants.
Es entsteht nun die nähere Frage: wie vollzieht sich
nach Olivi die Verbindung des Objektes mit dem Subjekt?
Natürlich muß auch er irgend ein Berühren des einen
mit dem andern fordern. Entsprechend seiner Erklärung des
Erkennens, in Anknüpfung an die damalige Platonisch-
augustinische Emissionstheorie des Sehens und womöglich
auch befruchtet durch die neuplatonischen Anschauungen
von der geistigen Bestrahlung (Irradiatioj und Belichtung
der Gegenstände durch den erkennenden Geist kommt Olivi
zu einer merkwürdigen, bislang nicht bekannten Theorie.
An Stelle des Aussendens von Strahlen, wie es die Platoniker
wollten, oder des physischen Herausgehens der Erkenntnis-
kraft, wie es Augustin annahm, setzt Olivi ein virtuelles
Austreten derselben, die vom Subjekt bis zum fernsten Ob-
jekt reicht. Im Grunde ist diese , Erklärung" bloß eine
Umschreibung der Tatsache des Erkennens selber, eine
1) Dem aina, II 4, 5, 12; III 4.
2) Besonders de Trin., lib. IX sqq. ; vgl. Baeumker, Witelo, 4dOff.
Das virtuelle Berühren des Gegenstandes 73
wissenschaftliche Klarstellung ist sie nicht. Beachtenswert
ist bloß das methodische Verfahren, mit dem diese aprio-
rische, von vornherein feststehende Konstruktion nachträglich
mit einem relativ bedeutenden Aufwand von Tatsachen gestützt
wird. Dieses empirische Material ist durchgängig der Optik
entlehnt, wie sie Olivi vor allem durch Alhazen — er zitiert
sie als die Perspectiva Arabum — zur Verfügung stand*),
örosseteste, Pecham, Witelo, Roger Bacon und Dietrich v. Frei-
berg 2) haben reichlich aus ihr geschöpft. Hat Olivi auch in
keiner Weise systematisch gearbeitet, wie etwa Pecham in
seiner Perspectiva communis, so zeigt er immerhin einen
offenen Blick und eine wirkliche Hochschätzung der Tat
Sachen; ein wissenschaftlicher Zug, der bei den Franziska
nern des 13. Jahrhunderts mehrfach zu beobachten ist 3)
Um so mehr muß die gewaltsame Einordnung dieses Be
Obachtungsmaterials in seine verunglückte apriorische Auf
fassung vom Verhältnis des erkennenden Subjektes zum
Objekt auffallen.
Die ganze Frage 73 ist der Darstellung dieses Lehr-
stückes gewidmet. Schon die Überschrift derselben formuliert
scharf das Thema und weist auf die Beziehungen zur Plato-
nisch-augustinischen Emissionstheorie hin: an aliqua virtus
cognitiva . . . secundum suam essentiam exterius non emissa
possit ab extrinseco et distanti medio vel obiecto absque eorum
influxu mutari; per mutationem aut passionem intelligo pro-
tensionem sui ad extra et protensionera pertransitivam,
percussivam incessus vel virtualis radii aut reflexionem a
speculo vel specularibus vel diverberationem aut resisten-
tiam vel prohibitionem vel fixionem aut terminationem eins
in obiecto. Die Untersuchung geht, wie besonders der
1) Fr. Rlsner, Alhazen, Thesaurus Optlcae.
2) Vgl. die Anmerkungen im 1. Kap. S. 7.
3) Außer bei den genannten Pecham und Roger Bacon auch bei
Bartholomaeus Anglicus. Über die Franziskaner siehe H. Felder, Ge-
schichte d. Wissenschaf tl. Studien im Franziskanerorden, Freiburg Br.
1904. Grosseteate, der sich viel mit mathematischen und empirischen
Wissenschaften beschäftigte (siehe Baur, Die Philosophie des Robert
Grosseteste), erteilte selbst den eben in England angekommenen Fran-
ziskanern Unterricht (Felder, 260 ff.).
74 8. Kapitel
weitere Verlauf zeigt, auf alle Erkenntniskrftfte. Nach ener-
gischer Zurückweisung der Emissioustheorie wird das eine
Element in der Augustinischen Erklärung aufgegriffen und
weitergeführt: potentiae animae attingunt per virtualem
aspectum obiecta, ubi realiter seu secundum essentiam suam
non sunt . . ., eine Theorie, die Olivi tamquam internae ex-
perientiae consonam et multiplici rationi innixam zu begründen
sucht. Der Beweisgang zerfällt in zwei Teile: primo iste
modus possibilis, secundo necessarius est.
Einleitend wird zunächst in anschaulicher, geistreicher
Weise gezeigt, was der schon so oft erwähnte Aspectus ist
und durch welche Faktoren seine Stärke und sein Umfang
bedingt ist. Daran schließt sich die Erklärung, quomodo
praefatus aspectus transeat vel figatur aut frangatur vel
reflectatur, ubi simpliciter et absolute non est; im Grunde
ist sie eine rein tautologische Wortumschreibung. Zusammen-
fassend heißt es dann: si igitur quaeras, in quo sit mutatio
huius aspectus tamquam in subiecto, patet, quod est in
potentia et in eins organo; si autem quaeras, in quo sit
tamquam in termino formali et intrinseco, patet, quod est
in ipso aspectu . . . ; si vero quaeras, in quo sit tamquam
in obiectivo termino, patet, quod in obiectis . . .; si autem
quaeras, a quo sit tamquam a causa efficiente, patet, quod
vel a voluntate potentias movente vel aliquando per natu-
ralem coUigantiam fit ab aliquo motu vel mutatione sui
organi vel totius corporis; si vero quaeras, a quo sit tam-
quam a terminativo et per modum terminativi cooperativi,
patet, quia sie est ab obiectis.
Im folgenden werden die Erscheinungen der Eeflexion
und der Brechung der Lichtstrahlen und der Schallwellen,
also die Tatsachen der Spiegelung und des Echos, herbei-
gezogen und an ihnen, stets im Hinblick auf die Grundthese
vom virtualis aspectus potentiae cognitivae, ubi realiter non
est, gezeigt, daß sie dort eine Wirkung ausüben und eine
Veränderung erleiden, z. B. beim Übergang in ein Medium von
größerer oder geringerer Dichte, wo sie physisch nicht sind:
attendendum, quomodo aspectus transeat, figatur, frangatur,
reflectatur, ubi simpliciter non est. Diese Medien, z. B. Luft und
Das virtuelle Berühren des Gegenstandes 75
Wasser sind nicht die Causa efficiens der Brechung, sondern
bloß die Termini non pervii. Aus diesem Gedanken heraus
wird weiterhin ausführlich gezeigt, daß beim Echo nur ein
und dieselbe Stimme gehört wird: vox clamantis vel cam-
panae quasi a montibus resonans, quae dicitur eco, non est
alia vox a prima voce clamantis vel a prima voce campanae.
Die „Tatsache" sodann, daß der Aspectus in instanti ab ob-
iecto ad oculum retrahitur, wie es bei der willkürlichen
Schließung der Augen oder durch das Dazwischentreten
eines Hindernisses, z.B. der Wolken gegen die Sonne, er-
folgt, soll aufs neue die Richtigkeit des philosophischen
Satzes beweisen, daß der Aspectus oder das Erkennen ein
virtuelles Austreten und Herübergehen der Erkenntniskraft
zum Objekt, ein Betasten desselben im Sinn der Neuplatoniker
ist, ohne daß außerhalb des erkennenden Subjektes etwas be-
wirkt würde. Das Ganze ist eine merkwürdig vertrakte Kon-
struktion auf Grund großenteils richtiger Beobachtungstat-
sachen. Patet igitur, schließt mit großer Sicherheit der erste
Teil, ex praemissis, quod modus iste nihil continet impossibile,
quin potius sequitur ubique internum et assiduum exprimentum.
Der zweite Teil geht weiter und sucht die Notwendig-
keit dieser Erklärung durch Ausschließung anderer Annahmen
nachzuweisen. So wird aus der Unmöglichkeit der Species-
theorie für die äußern Sinne gefolgert: quod cognitivi aspectus
terminentur in suis obiectis et hoc diversimode absque eorura
influxu. Umgekehrt muß die eingehend herbeigezogene
Anatomie des Auges als neue Bestätigung dieser Auffassung
dienen: sein ganzer Bau hat den einen Zweck, auf alle
Weise den Aspectus zu erleichtern und zu vervollkommnen.
Die Erkenntnis der reinen Geister endlich ist nur in
dieser Annahme erklärlich. Angeborene Ideen würden die
Erkenntnis fernliegender Gegenstände nicht ermöglichen —
bereits in Frage 36, wo die Engellehre behandelt wird,
werden diese gegen Thomas abgelehnt — ; ein Einfluß des
Sinnesobjektes ist ebenfalls ausgeschlossen; anderseits steht
das Innere der reinen Geister nicht ohne weiteres und
gegen ihren Willen dem Blick anderer Geister offen. Mithin
bleibt die gegebene Erklärung als die einzig mögliche übrig.
9. Kapitel.
Die Colligantia der Seelenkräfte.
Dieses Lehrstück ist entschieden das sachlich wertvollste
in der ganzen Erkenntnislehre Olivis. Es dürfte zu dem
Besten zählen, was geschichtlich zur Lösung des in Frage
stehenden Problems beigetragen wurde. Seine spekula-
tive Bedeutung tritt erst dann voll und ganz hervor, wenn
man die Schwierigkeit kritisch durchdenkt, die in dem Tho-
mistischen Begriff der Causalitas instrumentalis phantas-
matis in intellectum liegt ^). Suarez, der seinen speku-
lativen Ausführungen ausführliche, auf reichem positiven
Wissen beruhende geschichtliche Überblicke vorauszuschicken
pflegt 2) und den Schopenhauer^) darum das „wahre Kom-
pendio der Scholastik" nennt, verfolgt die Stellungnahme
späterer Denker zu der Lösung des Aquinaten*): Durandus,
Isaac Narbonensis, Caietan, Javellus, Capreolus^ Perrarius,
Apollinaris, Jandunus, Aegidius v. Eom werden der Reihe
nach aufgezählt. Die spätere Entwicklung, namentlich das
Zurückgreifen auf die Colligantia oder Sympathia seitens
eines so erstklassigen Denkers, wie es Suarez^) ist, bestä-
tigt dieses Werturteil.
1) S. th., q. 84 a. 7; q. 85 a. 1, 2.
2) Vgl- Grabmann, Die Disputationes metaphysicae des Erana
Suarez.
3) Über die vierfache Wurzel des SatzeB vom zureichenden
Grunde, 2. Aufl., 2. Kap. § 6 (Sämtl. Werke herauegeg. von P. Deussen,
München 1912, 3. Bd. S. 146).
4) De anima, IIb. IV cap. 2 n. 3 — 7.
5) De anima, lib. IV cap. 2 n. 7 sqq.; vgl. 8. 86 ff., wo noch
andere Anhänger der ColIigantia*Theorie aufgezählt werden.
Die OolUgantia der Seelenkräfte 77
In Olivis Erkenntnislehre hat diese CoUigantia eine zen-
trale Stellung. Sie macht es ihm vor allem möglich, trotz
der Verwerfung der Aristotelischen Spezies und des Au-
gustinischen Schauens in den Rationes aeternae, den Grund-
gedanken der Hochscholastik, wie er in den Borghese-Hand-
schriften durchgeführt wird, auch später im Vaticanus fest-
zuhalten: das Erkennen nimmt den Weg von unten nach
oben, beginnt mit der Einzelerfahrung und geht von da
unter Anlehnung an die sinnlichen Vorstellungen zur
Abstraktion der allgemeinen und notwendigen Wahr-
heiten über. Die Vermittlung vom Niedern zum Höhern,
von den Sinnen zum Geistigen bildet die CoUigantia; die
durch sie bedingte Tätigkeit leistet zum Teil das, was bei
Aristoteles ^) und Thomas ^) die durch den Intellectus agens
aus dem Phantasmata herausgearbeitete Species impressa
leistet. Wie gemäß diesen Denkern erst die Species im-
pressa die letzte Vorbedingung für die Tätigkeit des In-
tellectus possibilis schafft, d. h. ihn in actu primo completo
versetzt, so tut es nach Olivi die CoUigantia, die, wie wir
gleich sehen werden, einer Impressio oder einem Impulsus
der niederen Erkenntniskraft auf die höhere gleichkommt.
Der Wichtigkeit des Gegenstandes halb er sollen hier, um-
gekehrt zu der sonst befolgten Ordnung, an erster Stelle die
Darlegungen Olivis selbst, wie er sie in Frage 72 gibt, ge-
setzt werden, an zweiter Stelle mögen dann die darin
steckenden allgemeinenGesiehtspunkte herausgehe ben werden.
Im ersten Praenotamentum, das de vario modo agendi
et patiendi betitelt ist — was wohl zu beachten ist — , wird
ganz allgemein, ohne besondere Rtlcksichtnahme auf die
CoUigantia potentiarum, ausgeführt: tertius modus estjquando
patiens non subicitur activae virtuti agentis directe et im-
mediate, sed solum oblique et mediate nee subicitur ex se
solo absolute sumpto, sed solum ex hoc, quod est alteri pa-
tienti firmiter et fortiter colligatum. Es folgen einige bemer-
kenswerte Beispiele: ignis naturaliter tendens sursum, quando
1) D© aQima, IH 7, 8.
2) S. th., q. 85 a. 1, 2; vgl. Kleutgen, Die Philosophie der Vor-
zeit, 1. Bd., S. 103 ff.
78 9. Kapitel
est imbibitus ponderosae naturae ferri Tel carbonis, tendit
cum eis deorsum tamquam motus a graTitate eorum propter
inseparabilem colligantiam sui ad illa.
Unmittelbar darauf kommt der bedeutsame Vergleich
mit der Eductio formae de potentia materiae: iste modus
agendi et patiendi quoad quid assimilatur eductioni form ar um
de materia factae ab impressione prius naturaliter influxa
eidem materiae ab aliquo agente. Illa enim impressio, cum
sit quaedam actio vel passio, non se habet ad subsequentem
eductionem formae de materia, sicut se habebat influxiva
vis agentis ad influxum ipsius impressionis. Illa enim erat
directe conversa super subiectum recipiens eins influxum
et ille influxus directe manat et fluit ab illa vi agentis;
eductio autem formae de materia non fluit sie ab ipsa im-
pressione nee impressio dirigit se ad subiectum eductionis,
ut influat talem eductionem in ipsuni; immo potius ipsa im-
pressio est quaedam directio et impulsio seu inclinatio eius-
dem subiecti seu materiae ad finalem terminum ipsius educ-
tionis, iuxta quod sagitta a sagittante impulsa est ipso im-
pulsu formaliter et virtualiter inclinata ad illum locum, ad
quem localis motus ipsam subsequens finaliter currit tam-
quam ad terminum suum. Zum Verständnis dieses sehr be-
zeichnenden Vergleiches ist wohl zu beachten, daß Olivi
die sog. gewaltsame Bewegung der Aristoteliker ganz modern
im Sinne des Trägheitsgesetzes erklärt, gemäß welchem sich
der bewegte Beweger in kraft der von außen erhaltenen Bewe-
gungsgröße, ohne neue Einwirkung von außen, weiter bewegt \).
Dieser Modus agendi et patiendi bei der Eductio formae
de potentia materiae, durch den das Wesen der Colligantia
bezw. die durch sie bedingte Wirkungsweise beleuchtet
werden soll, wird in folgendem genauer bestimmt. Voraus-
geschickt wird noch eine Bemerkung, die unmittelbar
auf die Colligantia geht: sciendum tamen, quod sicut in
rebus ad invicem colligatis est aliquando differentia su-
perioritatis, qua unum est superius altere, sie et in motibus
seu passionibus ex tali colligantia causatis est differentia;
1) Jansen, Olivi der älteste scholastische Vertreter des heutigen
Bewegungsbegriffs.
Die CoUigantia der Seelenkräfte 79
quia a motu facto in superiori causatur motus in inferiori
quasi descendendo, ab inferiori vero in superius quasi
ascendendo. Et ideo motus superioris non sie subiacet motui
inferioris, quando causatur ab eo, sicut motus inferioris sub-
iacet superiori, quando causatur ab eo.
Noch wichtiger ist die folgende genauere Bestimmung
der Causalitas bei der Eductio formae: sciendum etiam, quod
mobilitas materiae ad motum ex ea educendum plus accedit ad
rationem activi quam sola susceptibilitas materiae ad sus-
cipiendum influxum alicuius influentis in eam. lila enim
mobilitas, quae est ad formam et motum connaturalem mate-
riae mobilis, plus accedit ad rationem activi quam mobilitas
ad motum violentum et ad formam artificialem. Et ideo
mobile plus dicitur cooperari in suo motu sibi connaturali
quam in violento et sibi innaturali, quia naturalis ordo mo-
bilis ad talem motum non modicum iuvat ad factionem eins ;
sicut etiam mobile plus cooperatur in quocunque motu etiam
violento quam in suscipiendo influxum ab exteriori agente
fluentem, quia plus est habere in se naturam talem, ex qua
talis actio possit in ipsa ex ipsa educi quam qnod solum
possit in ipsa suscipi, non autem ex ipsa educi.
Nachdem so ganz allgemein die durch die CoUigantia
verschiedener Dinge und Kräfte bedingte Wirkungsweise im
ersten Praenotamentum der q. 72 beschrieben ist, wird im
dritten Hauptteil derselben gezeigt, wie durch diese CoUi-
gantia ein Übergang oder eine Einwirkung vom Körper auf
die Seele erfolgen kann. Zuerst wird eine vierfache Art
dieses Übergehens der Tätigkeit unterschieden, der anhangs-
weise eine fünfte beigefügt wird. Gerade bei der Darstel-
lung dieser letzteren werden die feinsten und tiefsinnig-
sten Bemerkungen über die durch die CoUigantia bedingte
Wirkungsweise gemacht. Den Höhepunkt der Darlegungen
bildet letztlich die Begründung der CoUigantia durch den
Hinweis auf die Unio formalis des Menschen aus Leib und
Seele, als deren letztes Einigungsband auch hier wieder —
wie bereits im vierten Kapitel angedeutet wurde — die
Materia spiritualis betrachtet wird.
Die vier Arten des Überganges vom Körper auf die
80 9. Kapitel
Seele und umgekehrt sind: primo quoad modum existendi^
secundo quoad habitum. tertio (juoad actualem aspectum
potentiarum in obiecta, quarto quoad localem mutationem
seu motum. Sie tragen zur Klarstellung des fraglichen Be-
griffes kaum etwas bei, die konkrete Ausführung bezw. die
Beispiele sind belanglos oder gar zweifelhafter Natur. Um
so bedeutsamer ist der Inhalt der fünften Art : quidam autem
addunt alium modum, scilicet cum actio unius potentiae se-
quitur ad actionem alterius, ut cum ad actum videndi se-
quitur in sensu communi actus iudicandi et in intellectu actus
intelligendi seu advertendi aut cum ad delectationem appe-
titus inferioris sequitur delectatio in superiori. Sed secun-
dum alios actio unius potentiae nunquam immediate causa-
tur ab alia, quia tunc non esset actio, sed tantum passio
vel motio illius potentiae. in qua ab altera potentia et ab
eius actione fieret, iuxta quod conversio visus vel intellectus
ad sua obiecta fit a voluntate .... Poterit etiam ultra hoc
dici, quod actionem superioris potentiae praecedit quaedam
attractiva passio causata ab actu potentiae inferioris ; quando
autem inferior movetur a superiori, tunc actionem inferioris
naturaliter praeit quaedam impulsiva passio et impressio
facta ab actu potentiae superioris . . . Vel pro priori modo
potest dici, quod sicut acies gladii incidit per modum vibra-
tionis suae materiae datum, sie, quia materia potentiarum
animae est eadem, idcirco actio unius est sicut quaedam
motio suae materiae communis utrique potentiae, per quam
altera potentia quasi applicatur ad actum suum; nam huius-
modi mutuae motiones potentiarum contingunt in actionibus
et obiectis ad invicem connexis. Et secundum hoc primi
forsitan dicunt verum.
Kursus sciendum, quod agenti per colligantiam coope-
ratur ipsum patiens non solum per modum susceptivi nee
solum per modum mobilis, immo etiam per formalem incli-
nationem et unionem ipsius ad illud, cui est coUigatum.
Quae quidem inclinatio aequivalet impulsui vel influxui facto
in mobili a motore. Propter hoc enim ad solum impulsum
et motum rei sibi coUigatae fit motus in ipsa parte alia
absque impulsu et influxu alio sibi dato.
Die Colligantia der Seelenkräfte 81
Es folgt der Hinweis auf den tiefsten Grund der Mög-
lichkeit der durch die Colligantia bedingten Wechselwirkung
zwischen Leib und Seele. Ulterius sciendum, quod colli-
gatio Spiritus ad corpus, propter quam motus vel dispositio
unius redundat in alterum, consistit principaliter in formali
unione Spiritus ad corpus tamquam ad suam materiam et
corporis ad ipsum tanquam ad suam formam . . . Secun-
dario vero consistit in concursu plurium potentiarum animae
in eadem materia spirituali ipsius animae. Utrobique autem
est identitas materiae causa, quare ad impressionem directe
factam in corpore sequatur aliquis effectus in anima, acsi
prima impressio facta in corpus esset quaedam raotio ipsius
animae; est enim pro tanto motio eins, pro qanto est motio
suae materiae corporalis.
Aus alledem erhellt erstens, daß die durch die Colli-
gantia bedingte Wirksamkeit einen wahren Übergang, ein
wirkliches Übergreifen der Tätigkeit von dem einen Teil auf
den andern mit ihm verbundenen Teil bedeutet, nicht als
ob die spezifische Natur der Handlungsweise im letzteren
von dem ersteren abhänge, sondern insofern als die Anre-
gung von ihm ausgeht. Mit andern Worten nicht das „Wie*
sondern das „Daß" der Tätigkeit im zweiten Glied ist durch
die Einwirkung des ersten Gliedes bestimmt. Auf diese An-
regung, auf dieses Einleiten des Prozesses reagiert das mit
dem ersten verbundene zweite Glied so, wie es seiner
Natur entspricht. Olivi drückt das feinsinnig aus, wenn er
den Verlauf dieses Prozesses mit der Eductio formae de po-
tentia materiae vergleicht. Für jeden mit den scholastischen
Gedankengängen irgendwie vertrauten Leser ist damit der
Anteil, den das erste und den das zweite Glied hat, scharf
von einander abgegrenzt.
Zweitens ist nunmehr der so umschriebene Begriff der
Colligantia auf die in Frage stehende Erkenntnislehre an-
zuwenden. Der tiefste metaphysisch-psychologische Grund,
warum das so geheimnisvolle Einwirken der sinnlichen Akte
auf die geistigen, des niedern Erkennens auf das höhere und
umgekehrt möglich ist, ist der Zusammenschluß von Leib und
Seele in der geistigen Materie: weil bei jedem sinnlichen
6
82 9. Kapitel
Akt bereits die geistige Materie mitschwingt, ia die letztlich
sowohl die niedern als auch die höheren Fähigkeiten
mllnden, deshalb wird sich auch die Anima intellectiva
in ganz entsprechender Weise betätigen. Bildeten Leib und
Seele nicht ein Wesen oder, um genauer im Sinn Olivis zu
sprechen (q. 51), wäre die Pars intellectiva animae ratio-
nalis nicht substantiell mit dem Körper verbunden, wäre sie
nicht wenigstens indirekt und mittelbar Form des Körpers,
dann wäre ein Übergang nicht möglich; denn Körperliches
kann, wie im ersten Teil der Frage 72 im Anschluß an Au-
gustin ausführlich bewiesen wird, nicht unmittelbar auf Gei-
stiges einwirken.
Diese mit großem Scharfsinn von Olivi ausgedachte und
mit bedeutender spekulativer Kraft von ihm durchgeführte
Theorie behält auch ihren hohen Wert, obschon sie von dem
Beiwerk seiner merkwürdigen, vom Vienner Konzil verur-
teilten Inf ormationslehre ^) umgeben ist.
Wenn wir sagten, Olivi habe, soweit bis jetzt die Quellen
reichen, diese Theorie ausgedacht, so können wir ihre Spuren
doch bereits früher verfolgen. Nach Wilhelm v. Auvergne,
der uns bereits in dem Kapitel über die Stellung des Ob-
jektes begegnete ^) und der in der Erklärung des Ursprungs
der höheren Erkenntnis zwischen Aristoteles und Augustin
auszugleichen suchte, „stellt sich der Erkenntnisvorgang dar
als -ein von innen heraus sich vollziehendes Auswirken des
Erkenntnisbildes, als eine Selbstverähnlichung der Seele mit
dem Träger, und in diesem Sinn als ein Übergang aus der
Potenz in den Akt . . . Was er also mit dem Namen intel-
lectus materialis benannte, das war die geistige Substanz
der Seele selbst, insofern sie die Fähigkeit besitzt, die äußern
Dinge auf deren Veranlassung geistig in sich nachzubilden . .,
er leugnet zwar eine Wirksamkeit im Sinne der Übertragung
physischer Qualitäten von Seite des Körperlichen auf das
Geistige, will aber das Erstere doch als eine veranlassende
Ursache für die Betätigung des Geistes gelten lassen. Auf
1) Jansen, Quonam spectet definitio Concilii Viennensis de anima.
2) Kup. 6 S. 51 Anm. 4, S. 59 f.
Die Colligantia der Seelenkräfte 83
diese Weise gewinnt dann der Scholastiker den Zusammen-
hang des Denkens mit der Außenwelt" ^).
Wie man sieht, findet sieh der Grundgedanke der Colli-
gantia-Theorie Olivis, daß bei Gelegenheit der einen Keihe
von Akten die Seele die entsprechenden Reihen anderer
Art aus sich setzt, bereits bei Wilhelm v. Auvergne. Indes
sind das nur gelegentliche Andeutungen, die überdies nur
das Entstehen der höheren Erkenntnis erklären sollen, wäh-
rend Olivi eine fein durchdachte, tief begründete und aus-
führlich dargelegte Theorie gibt, die zudem ganz allgemein
gilt, ebenso wohl für den Weg von unten nach oben wie für den
von oben nach unten, sowohl für den Zusammenhang des
Erkenntnisverlaufes als auch für den Zusammenhang des
Erkennens mit dem Begehren.
Genug, die Ausführungen Wilhelms v. Auvergne zeigen,
daß die Motive, die zur CoUigantia-Theorie führten, schon
längst vor Olivi in der Luft lagen. Die Augustinische Er-
kenntnislehre, die bekanntlich die geistigen Denkakte
unabhängig von der sinnlichen Erfahrung, ganz aus der
schöpferischen Kraft der Seele geboren werden läßt, brauchte
bloß mit Elementen der Aristotelischen Erklärung durchsetzt
und abgeschwächt zu werden und wir haben die Auffassung
von der „veranlassenden Ursache", wie sie bei Wilhelm
V. Auvergne vorliegt; wie ja auch tatsächlich seine Erkennt-
nislehre gerade durch diese Vermengung Augustini scher
und Aristotelischer Elemente ^) gekennzeichnet ist.
Wir dürften demnach der Wahrheit am nächsten kommen,
wenn wir annehmen, daß Olivi auch im gegenwärtigen Lehr-
punkt an vorliegende Arbeiten von Vorgängern und Zeit-
genossen anknüpfte und deren Ausführungen in schöpferi-
scher Synthese zu einer allseitigen Gesamttheorie gestaltete.
Diese Methode entspricht ganz seiner sonstigen, selbständigen
und dabei doch wieder konservativen Art, z. B. bei der Ver-
werfung der Spezies, bei der Leugnung des Einflusses des
Objektes, in der Informations- und Preiheitslehre. Nahe-
1) Bauragartner, Die Erkenntnielehre des Wilhelm v. Auvergne,
S. 56 f.
2) Siehe den ganzen dritten Abschnitt bei Baumgartner.
84 9. Kapitel
gelegt wird diese Vermutung auch dadurch, daß Olivi gerade
in der Erkenntnislehre Augustinus und Aristoteles ständig
mit einander auszugleichen sucht.
Fragen wir nunmehr, welche geschichtliche Wirkung
von der CoUigantia-Lehre Olivis ausgegangen ist, so scheint
es fast, als sei sie zunächst völlig der Vergessenheit an-
heimgefallen. Diese Erscheinung mag auf den ersten Blick
befremden. Bedenkt man aber, wie scharf seine Lehre in
und außerhalb des Ordens verurteilt wurde, mit welcher
Härte seine Schriften eingezogen, verboten und verbrannt
wurden, so daß ein so hervorragender Kenner des Biblio-
thekwesens und der mittelalterlichen Handschriften wie P.
Ehrle den Codex Vaticanus erst nach langem Suchen ent-
deckte^), so ist nichts natürlicher als diese Vergessenheit.
Nur bei einem Zeitgenossen Olivis, bei Petrus de Tra-
bibus, den P. Ehrle 2) als „dessen treuesten Schüler" be-
zeichnet, finden wir die CoUigantia-Lehre vertreten. Auch
er erklärt ganz allgemein den Übergang vom niederen zum
höheren Erkennen und umgekehrt vom höheren zum niederen,
desgleichen die Vermittlung zwischen Erkennen und Streben
durch die CoUigantia.
Zunächst leugnet er die Augustinische Illuminations-
theorie, wobei er das videre in rationibus aeternis ganz wie
Thomas v. Aquin und Olivi deutet: intellectum nostrum vi-
dere seu cognoscere aliquid in Deo sive in divina luce bene
dicitur, quia efficit ipsum intellectum dans ei esse et vir-
tutem ad intelligendum; et iste est modus communis natu-
ralis cognitionis. Sodann behauptet er in der gleichen Frage,
daß unser Erkennen mit der sinnlichen Erfahrung beginne :
sicut in corporali visione lux est primum et principale visi-
bile et ideo omnis oculus habet naturalem promptitudinem
et facilitatem ad videndam lucem, sie in visione intellectiva
prima et per se nota sunt principia cognoscibilia et prima.
Et ideo omnis intellectus habet naturalem promptitudinem
1) Ehrle, Petrus Job. Olivi. Sein Leben und seine Schriften
(Archiv, Bd. III S. 409—553).
2) Archiv, III 459 ; vgl. Wadding-Sbaralea, Supplementum, unter
Petrus de Trabibus (p. 611 sq.) und Jacobus Trisanto (p. 378).
Die Colligantia der Seelenkräfte 85
et facilitatem ad talia intelligenda, quando ei proponuntur
Tel ab eo apprehenduntur. Ad hoc enim, quod intellectus
ita cognoscat, necesse est, quod species eorum per sensus
mediate vel immediate acqiiirat. Aliter enim nulli intellectui
humano praesentia erunt.
Drittens untersucht Petrus de Trabibus in ausführ-
lichen Fragen, die bei Olivi fehlen, das Vorhandensein des
Intellectus agens und possibilis und leugnet es.
Viertens verwirft er gelegentlich, im Geiste sein es Lehrers,
die den Erkenntnisakt einleitende Species impressa und
leugnet den ursächlichen Einfluß des Objektes.
Die bisherige vollkommene Übereinstimmung legt den
Schluß nahe, daß Petrus de Trabibus gleich Olivi auch die Ent-
stehung des höheren Erkennens durch die Colligantia po-
tentiarum erklärt, zumal, wie es scheint, dies der einzig noch
übrig bleibende Weg ist.
Das geschieht nun auch tatsächlich, wenngleich nicht
formell, in der Frage: utrum liberum arbitrium possit im-
pediri per corporis impedimentum. Ich sage, es geschieht
nicht formell oder mit ausdrücklichen Worten, denn es wird
nicht die Anwendung des dort aufgestellten Grundsatzes auf
unsern Einzelfall, nämlich auf den Übergang vom niederen
auf das höhere Erkennen, gemacht. Um so klarer wird
dagegen das allgemeine Prinzip der Colligantia, das jed-
weden Übergang zwischen Körper und Geist, zwischen der
einen Seelenkraft und der andern regelt, ausgesprochen.
Voluntas nata est dupliciter moveri, uno modo per naturalem
colligantiam sui ad rationem et ad potentias inferiores. Motus
enim appetitus intellectivi naturaliter est coniunctus appre-
hensioni intellectus, sicut etiam in sensitiva se habet. Et
ideo, quando intellectus rationem boni et delectabilis in
aliquo apprehenso ei repraesentat, statim habet ad illud
moveri et inclinari. Necesse [est] etiam dicere, quod vege-
tativa, sensitiva et intellectiva sint diversae partes formales
unius animae humanae in una spirituali materia animae
radicatae, unum suppositum animae constituentes. — Es folgt
die weitere Ausführung der Informationslehre, genau wie bei
Olivi. — Cum ergo potentiae sint omnes unitae et radicatae
86 9. Kapitel
in una spirituali materia et supposito. sint etiam omnes unitae
corpori essentialiter, licet non omnes formaliter sint — d. h. die
intellectiva pars ist nicht per se forma corporis, wie das
auch Olivi gelehrt hatte — : manifestum est, quod ineptitudo
existens in corpore vel mutatio in ipso facit in anima im-
mutationem immediate quoad potentias inferiores; impeditio
autem potentiarum inferiorum vel occupatio nimia in actibus
suis redundat in potentiam intellectivam.
In diesen Worten ist mit voller Klarheit die Colligantia-
Lehre ausgesprochen, wenngleich sie nicht ausdrücklich auf
das Erkennen angewandt wird; wie es scheint, entwickelt
Petrus de Trabibus in seinem Sentenzenkommentar keine
zusammenhängende Theorie über den Ursprung und Ver-
lauf des Erkennens.
Scotus, der OUvi als Zeitgenosse und Mitbruder nahe
stand und der genau über seine Informationslehre berichtet^),
schweigt sich an der Stelle, wo er deutlich an die Leug-
nung des Einflusses des Objektes auf das höhere Erkennen
anspielt, wie jener das vorgetragen hatte, völlig über die
CoUigantia-Theorie aus 2). Und doch hätte man dort eine Er-
wähnung erwarten dürfen. Scotus geht nämlich sechs ver-
schiedene Ansichten über die Entstehung der höheren Er-
kenntnisse durch, ist sehr ausführlich und doch erwähnt er
auch nicht von ferne die Colligantia-Lehre.
Erst im 16. Jahrhundert taucht sie wieder auf. Außer
Suarez halten sie verschiedene Thomisten, wie jener ^) und
Rubins^) berichten, und mehrere Jesuiten, so außer dem
bekannten Silvester Maurus^) Thomas Compton*^} und
1) De rerura principio, q. 9 a. 2 sect. 1 n. 16; q. 11 a. 2 n. 6, 7.
2) Sent., I d. III q. 7; vgl. Kap. 6 S. 60 f.
3) De anima. Hb. IV cap. 2 n. 10.
4) De anima, Hb. III cap. 4, 5, tract. de intellectu agente, quaest.
3. n. 45 (nach J. J. Urraburu, Institiitiones Philosophicae, pars II, Val-
lisoleti 1896, p. 483); Urraburu macht dort (nach Joh. Martinez Prado,
De anima, lib. III q. 24 n. 37) auch den Thomisten Wazarius namhaft.
5) Quaest. philos. De anima, quaest. 4 resp. 6; S. Maurus bringt
in wenigen Worten die bloße Quintessenz.
6) De anima, disp. 16 sect. 7 n. 1 (bei Urraburu, p. 483).
Die Colligantia der Seelenkräfte 87
Tellez *). Wir gehen schwerlich irre, wenn wir dieses Wieder-
aufleben großenteils auf den Einfluß des im 16. und 17.
Jahrhunderts unter allen Neuscholastikern einflußreichsten
und bedeutendsten Philosophen, des Franz Suarez^), zurück-
führen.
Daß dieser die Colligantia-Theorie vorfand, sagt er nicht
ausdrücklich, wenn er auch bemerkt: propter haec ergo —
der Schwierigkeiten, die in dem Mitwirken des Phantasma
als Causa Instrumentalis für die Erzeugung der Species in-
telligibiles liegen — nonnulli, etiam ex Thomistis, aiunt phan-
tasma non concurrere effective sed materialiter ad produc-
tionem speciei solumque intellectum agentem illam efficere;
quod non ita intelligunt, ut ipsum phantasma sit materia,
ex qua educatur species, id enim imposibile esset .... Dici-
tur ergo phantasma materialiter concurrere, eo quod praebet
veluti materiam intellectui agenti ad efficiendam speciem
intelligibilem. Quae opinio recte explicata videtur in prae-
senti probabilior (n. 11).
Mit diesen Worten ist freilich der Grundgedanke der
Thomistischen Ansicht, wonach das Phantasma als Causa
efficiens einfließt, abgelehnt, und auch ein wichtiges Element
der nun folgenden positiven Erklärung, daß das Sinnenbild die
Materia ex qua ist, aus der der Intellectus agens die Species
expressa herausarbeitet, angegeben, aber noch nicht gesagt,
wie es möglich ist, daß der Verstand in Tätigkeit tritt. Das
aber ist gerade der springende Punkt in der Colligantia-
Theorie.
Diese wird nunmehr in zwei Stufen dargelegt: intellectus
agens nun quam efficit speciem, nisi a phantasiae cognitione
determinetur. Es folgt die Begründung dafür, die wir über-
gehen können. Secunda conclusio: praedicta determinatio
non fit per influxum aliquem ipsius phantasmatis, sed ma-
teriam et quasi exemplar intellectui agenti praebendo ex vi
1) De anima, disp. 33 sect. 1. n. 5 (bei Urraburu, p. 483).
2) Raoul de Scoraille, Fran^ois Suarez, 2 vol. Paris 1913; Karl
Werner, Fr. Suarez und die Scholastik der letzten Jahrhunderte,
Regensburg 1861 ; Grabmann, Die Disputation es metaphysicae des
Fr. Suarez.
88 9. Kapitel
unionis, quam habent in eadem anima . . . Secunda vero
explicatur ex dictis de sensibus interioribus lib. 3. cap. 9.
Xam ad eum modum, quo ibidem postrerao loco dixi fieri
species in interiori sensu, iudico fieri in intellectu. Est enim
notandum phantasma et intellectum hominis radicari in una
eademque anima. Hinc enim provenit, ut mirum habeant
ordinem et consonantiam in operando, unde — quod infra
patebit — eo ipso, quod intellectus operatur, imaginatio etiam
sentit. Ad hunc ergo modum arbitror intellectum possibilem
de se nudum esse speciebus, inesse tamen animae rationali
vim spiritualem ad efficiendas in intellectu possibili species
earum rerum, quas per sensum cognoscit, ipsa sensibili cog-
nitione minime concurrente efficienter ad eam actionom, sed
habente se instar materiao aut excitantis animam aut vero
ad instar exemplaris ... A simili etiam potest explicari
tum in sensibus interioribus tum in potentiis appetitivis. Est
enim appetitus totalis causa sui actus . . . pendensque prae-
suppositive tantum in operatione sua a potentia cognoscente ;
si namque cognitio non praecedat, agere appetitus non potest,
posita autem cognitione exercitatur per se appetitus ad ope-
rationem propriam (n. 12).
Die Stelle aus lib. III cap. 9, n. 10, auf die vorhin ver-
wiesen wurde, lautet : probabile est species interiores resul-
tare in interiori sensu ex propria illius efficientia . . . Nunc
vero declaratur ex supra dicta sympathia seu consensione
potentiarum cognoscentium propter radicationem in anima
eadem. Nam eo ipso, quod anima per externum sensum
cognoscit, ad praesentiam talis cognitionis absque uUa eins
activitate resultat ab interne sensu effective interna species.
Die Stelle über die dicta sympathia heißt: illa duarum facul-
tatum in eadem anima radicatio concludit solum per modum
cuiusdam sympathiae, quatenus operante una facultate anima
inde excitatur ad operandum per aliam (cap. 9 n. 3).
Steht nun diese Erklärung des Suarez in ursächlichem
Zusammenhang mit der CoUigantia-Theorie Olivis oder, falls
dieser sie nicht zuerst ausgedacht hat, mit seiner Quelle?
Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Suarez Olivi nicht als
Vertreter dieser Ansicht gekannt, denn sonst hätte er ihn
Die CoUigantia der Seelenkräfte
nach seiner ständigen Art, die früheren Autoren in Menge
zu zitieren, erwähnt. Suarez hat nicht einmal geahnt, daß
Olivis Informationslehre vom Vienner Konzil verurteilt ist.
In q. 12 des ersten Buches De anima behandelt er ex pro-
fesso die Frage : utrum principium intelligendi in homine sit
Vera forma substantialis eins; in der ersten Nummer führt
er die gegenteilige Ansicht an, zitiert verschiedene Autoren
und sagt zum Schluß derselben : denique tempore Concilii
Viennensis sub demente V. . . . hie error excitatus videtur.
Diese Formulierung sagt klar, namentlich wenn man dazu
die sechste Nummer hinzuzieht, daß Suarez Olivi schwerlich
kannte. Weiterhin springt die vielfache Verschiedenheit
sofort in die Augen : die Unterscheidung des Intellectus agens
und possibilis und das Herausarbeiten der Species intelli-
gibilis, was bei Olivi ganz fehlt.
Es kommt hier indes bloß auf den einen Punkt an, ob
Suarez das schwierige Problem des Überganges vom Sinn-
lichen oder Körperlichen auf das Geistige im Grunde ebenso
löst wie Olivi und ob weiterhin seine konkreten Ausführungen
an die Ausdrucksweise des letzteren erinnern? Das ist nun
tatsächlich der Fall. Beide verwerfen eine ursächliche Ein-
wirkung der niederen Seelenteile auf die höheren, beide
betonen die Aktivität der Vermögen und sagen vor allem,
daß der Verstand die einzige Wirkursache der geistigen Er-
kenntnis ist. Das ist indes das Wenigste, das hätten allen-
falls auch die Anhänger Augustins gesagt. Auffallend ist
indes, das Suarez, der sonst Aristoteliker und Anhänger von
Thomas ist, diese Ansicht gegen letzteren vorträgt. Bedeu-
tungsvoller noch ist, daß beide die Anwesenheit des Phan-
tasma für eine Conditio sine qua non halten. Entscheidend
aber für die Gleichheit beider ist letztlich, daß sie den tief-
sten Grund der Möglichkeit des Überganges in der Radicatio
der verschiedenen Potenzen in ein und derselben Seele er-
blicken und daß sie durch diese CoUigantia bzw. Sympathia
potentiarum ganz allgemein, nicht nur für die Erkenntnis,
sondern auch für die Strebevermögen den Übergang von
der einen Seelenkraft auf die andere, und zwar von unten
nach oben und umgekehrt, erklären. Zu dieser Gleichheit
90 9. Kapitel
in den Grundgedanken kommt als wichtiges Moment die
auffällige Übereinstimmung in der konkreten Einzelausfüh-
rung hinzu. Bemerkenswert ist zunächst, daß beide wieder-
holt dasselbe Bild von der Radicatio in eadem anima haben ^).
Die Ausdrücke Colligantia, Sympathia und Consonantia haben
sodann eine ähnliche Klangfarbe. Wenn ferner Suarez das
Phantasma, das dem Compositum aus Leib und Seele an-
gehört, als die Materie bezeichnet, aus der der Verstand
seinen Akt gewinnt, so spricht Olivi von der Mobilitas ma-
teriae spiritualis ad motum — d. h. das geistige Erkennen
— ex ea educendum. Beide betonen weiterhin den Ordo
zwischen den verschiedenen Seelenteilen bzw. Seelenkräften.
Ganz auffallend suchen endlich beide die Bedeutung des
Sinnlichen, das ja keinen ursächlichen Einfluß auf das Gei-
stige ausüben darf, unter der Bezeichnung Inclinatio, Im-
pulsus und Influxus (Olivi) Excitatio und Exemplar (Suarez)
näher und anschaulicher zu bestimmen.
So dürfte es nach den Regeln der Innern Kritik eine
gut begründete Wahrscheinlichkeit sein, daß sich die Colli-
gantia-Theorie, mag Olivi sie nun zuerst entwickelt oder
in ihren Einzelmotiven oder in ihrer Gesamtheit von andern
übernommen haben, bis auf Suarez erhalten und daß dieser
aus ihr geschöpft hat.
Seitdem ist sie bis in die neueste Zeit hinein oft vertreten
worden, so von den scharfsinnigen Tongiorgi *) und Palmieri '').
1) Olivi hat diesen Ausdruck wiederholt, z.B. in q. 51 und q. 59;
vgl. Jansen, Die Lehre Olivis über das Verhältnis von Leib und
Seele, S. 171 f.
2) Institutiones philosophicae, vol. 3., 2. ed., Paderbornae 1863, p.
193 sqq.
3) Institutiones philosophicae, vol. 2., Romae 1875, p. 477.
10. Kapitel.
Das sinnliche Ericennen.
Was Olivi über die Sinneserkenntnis gelegentlich ein-
streut, ist ziemlich dürftig; nur der eine oder andere Punkt
verdient nähere Beachtung. Über die Natur derselben, ob
sie etwa wie bei Aristoteles *) ein Aufnehmen der Form des
sinnfälligen Gegenstandes ohne dessen Materie ist, äußert
er sich nirgends. Bei seiner naiv-realistischen Auffassung
der Abbildungstheorie, wonach jedes, also auch das sinnliche.
Erkennen ein Sichhinwenden zum Gegenstand ist, ohne daß
Species als Vermittler zwischen Objekt und Subjekt herbei-
gezogen würden, hat er noch kein Verständnis für das
Problem und seine Schwierigkeit^).
Obschon in den Fragen 74 und 58 ganz allgemein die Spe-
cies für jedes Erkennen abgelehnt werden, so wird doch im
2. Teil der Frage 73 die Erklärung der Sinneserkenntnis
durch Species, mögen sie nun ausgedehnt oder einfach sein,
in breit angelegten Ausführungen noch eigens bekämpft.
Geschichtlichen Wert haben sie insofern, als sie verschiedene
eigentümliche Erklärungsversuche jener Zeit wiedergeben.
Ihr kritischer Wert liegt in dem energischen Nachweis der in
diesen Theorien enthaltenen Unmöglichkeiten und Irrtümer^).
1) De anima, II 12; III 8: Geyaer, Die Erkenntnistheorie des
Aristoteles, S. 154 ff.
2) Vgl. Pesch-Frick, Institutiones Logicae et Ontologicae, n. 492
sqq.; Ed. v. Hartmann, Das Grrundproblem der Erkenntnistheorie,
Leipzig 1889; B. Dürr, Erkenntnistheorie, Leipzig 1910, besonders S.
98 ff. und 236 ff.; Martin flonecker, Gegenstandslogik und Denklogik,
Berlin 1921.
3) Vgl. z. B. Roger Bacons Perspectiva und De multiplicatione
specierum; siehe darüber Fröbea, Aus der Vorgeschichte.
92 10. Kapitel
Es mögen darum einige kurze Belege folgen: species
influxa prius et fortius et raagis proprie et conformius re-
praesentat speciem, a qua immediate gignitur quam aliam.
Sed ab obiecto distanti non potest fieri specios in visu nostro
nisi per aliquam genitam in medio. Ergo prius et fortius
et conformius et magis proprie repraesentat illam speciem
quam illud obiectum. Sed illud videtur prius et immediatius
et expressius, quod visui sie primo repraesentatur. Ergo
sola species immediata gignens speciem, per quam fit visio,
videbitur primo et principalius et proprie.
Gegen die Species simplices, die vom Objekt durch das
Medium zum Auge gehen sollen, wird ausgeführt: quaero,
an haec species spiritualis sit tota in pluribus partibus aeris,
sicut est anima in pluribus partibus corporis aut non. Si
sie. ergo quoad esse non dependet a partibus materiae, quas
informat, quia quacunque una partium sui subiecti sublata
adhuc existit in ceteris. . . Si vero non est tota simul in
pluribus partibus aeris. tunc aut est extensa aut punctalis
et neutro modo est spiritualis. Quartum impossibile est, quod
forma spiritualis fluat a forma corporali et extensa.
Bemerkenswert ist weiterhin folgende Erklärung: aut
species visualis quantitatem obiecti per propriam quanti-
tatem aut per aliquid aliud repraesentabit. Si per propriam
quantitatem, ergo nunquam repraesentabit quantitatem ma-
iorrem sua, et ita nulla res videbitur nobis maior oculo nostro. . .
Si vero per aliud, hoc non potest esse nisi sola sua ratio
specifica, per quam analogice est in specie coloris vel lucis
et quae est per suam quantitatem propriam formaliter ex-
tensa. Constat autem, quod per hoc non habet repraesen-
tare nisi colorem vel lucem, prout sunt quaedam species
qualitatis. . . Ergo ex hoc non repraesentabunt aliquid, quod
sit primo et per se in praedicamento quantitatis.
Das gleiche kritische Verständnis für die Schwierig-
keit, wie durch die Species der dreidimensionale Raum
unmittelbar wahrgenommen werden könne, spricht aus
folgender Auseinandersetzung: forte respondebitur, quod
quaelibet pars perspicui spatium intermedium occupantis
generat suam speciem in oculo, ita quod in oculo sunt plures
Das sinnliche Erkennen 93
species partium perspicui praedicti simul cum specie ob-
iecti principalis, per primas autem ut simul sumptas reprae-
sentatur quantitas spatii, per ultimam vero quantitas obiecti.
— Sed contra hoc arguitur : primo, quia ex quo istae
species sunt in eodem situ oculi . . ., sequitur, quod reprae-
sentabunt omnes quantitates partium spatii ut quasi aeque
distantes ab oculo. . . Tertio, quia locus obiecti non cohaeret
inseparabiliter formae obiecti, a qua gignitur species. . .
Ergo ex hoc, quod species visualis repraesentabit formam
obiecti, non repraesentabit plus unum locum eins quam alium.
Forte respondebitur, quod quantitas pyramidis ex omnibus
speciebus intermediis constitutae repraesentatur per speciem
in oculo genitam et ideo per eam videtur quantitas prae-
dictae pyramidis et eo ipso videtur quantitas spatii, in quo
est pyramis praedicta. Sed contra hoc arguitur . . . secundo
quia species genita in oculo non potest per id ipsum reprae
sentare quantitatem obiecti et quantitatem praedictae pyra
midis, cum istae sint quantitates valde diversae et in diver
sis subiectis et locis et diversas species figurarum habentes
quae quidem figura et earum diversitas a visu nostro videtur
Nachdrücklich wird wiederholt Augustins Erklärung der
sinnlichen Erkenntnis zurückgewiesen. So heißt es im vierten
Teil der Frage 74: satis autem miror, quomodo Augustinus VI.
Musicae et libro De quantitate animae^) dixit, quod sentire
res extrinsecas est idem quod non latere seu advertere et
percipere passionem, id est, speciem corporalem ab obiecto
impressam, non in animam. sed in corpus. Nam hoc non
esset sentire ipsum obiectum, immo solum esset sentire eins
effectum et hoc prout existit in corpore sentientis. Amplius
vero miror, quomodo XI De Trinitate^) dixit, quod species
corporalis est ipsa visio et quod actus visionis integratur
ex duobus, scilicet ex hac specie corporali et ex actuali
intentione animae.
Noch energischer lehnt Olivi die Platonische Emissions-
theorie ab, die er im Anfang der q. 73 in folgender Weise
charakterisiert: quidam vero Platonici . . . dixerunt poten-
1) De musica, VI 5 n. 9, 10; De quant. animae, cap. 24.
2) De Trin., IX 2.
94 10. Kapitel
tiam visionem cum quibusdam radiis corporalibus realiter
emitti usqiie ad res visas ibique recipere realem speciem
ab obiecto. Hos etiam radios dixerunt esse corpora subti-
lissima et lucida et quasi spiritus vaporeos ab anima vege-
tatos et ab oculo usque ad res visas protendi et exinde retrahi
per virtutes animae ipsos vegetantis et moventis et se ipsam
in eis. Ebenso bestimmt wie treffend führt er dagegen
aus: praedicta autem opinio Platonicorum est conflata ex
impossibilibus et ex improbabilibus et ex inutilibus ad actum
sentiendi. Daraufhin wendet er sich noch eigens gegen die
Emissionstheorie Augustins, der auch Anselm *) in libro De
veritate gefolgt sei, namentlich insofern Augustin ein Aus-
treten der Seele aus dem Körper behauptet. Deutlich hat
Olivi die beiden Parteien der Aristoteliker und PJatoniker
oder der Naturforscher und Mathematiker vor Augen, wenn
er schreibt: quidquid isti salvant per radios venientes a
rebus, salvant ipsi per radios virtuales ipsius visus — das
ist seine Ansicht — , sicut et Augustinus et multi alii salvant
per radios oculi corporales (Q. 58 in der Lösung der 14. Ob-
jektion der 10. Supprobatio)^). Diese Stelle deutet darauf-
hin, daß, wie überdies in q. 73 ausdrücklich gesagt wird,
Olivis Theorie von den Radii virtuales oder dem Aspectus
potentiae eine Umbildung und Verallgemeinerung der Plato-
nisch-augustinischen Emissionslehre ist.
Das bisher Gesagte zeigt uns Olivi vornehmlich als
Kritiker. Indes bieten seine Bemerkungen über die Sinnes-
erkenntnis auch manche wertvolle positive Gesichtspunkte.
Zu beachten ist zunächst die gelegentliche erkenntnis-
1) De verit., cap. 6.
2) Vgl. Grosseteste (Ludwig Baiir, Die Philosophie des Robert
Grosseteste, S. 1 11 ff.) : „Er selbst [Grosseteste] erwähnt beide gegen-
sätzlichen Ansichten : Die Naturphilosophen, sagt er, behaupteten, das
Sehen entstehe intussuscipiendo, indem sie das berühren, was ex parte
Visus natürlich und passiv ist. Die Mathematiker aber sind diejenigen
Physiker, welche das betrachten, was über der Natur ist ; indem sie das
berühren, was ex parte visus supra naturam und aktiv ist, sagen sie,
das Sehen kommt extramittendo zustande". . . . „Dieselbe Gegenüber-
stellung der Mathematiker und Naturforscher [findet sich] bei Ibu al
Haitam (Alhazen) in seiner Abhandlung über das Lichf^.
Das sinnliche Erkennen 95
theorische Erwähnung von den spezifischen Objekten der
einzelnen Sinne, wenngleich damit nichts ]^eues gesagt wird.
In diesem Zusammenhang muß das im 4. Kapitel Gesagte
wiederholt werden: alle Sinnesakte und deren Träger sind
einfach, das Gehirn ist der Sitz und das Organ der Empfin-
dung, in den Hohlräumen der Nerven bewegen sich die
Lebensgeister als Vermittler der Wahrnehmung. An die
Sinnesbilder, die im sinnlichen Gedächtnis aufbewahrt werden,
ist die schöpferisch kombinierende Phantasie in ihrer Tätig-
keit gebunden. Licht und Farbe sind verschieden, wieder-
holt wird ihre Bedeutung für das Sehen hervorgehoben.
Wichtiger ist indes das Verständnis Olivis für das Ver-
hältnis der Innern und äußern Sinne. Er schöpft da wie
Witelo, Bacon und Pecham aus Alhazen ; freilich sind seine
Darbietungen im Vergleich zu deren ausführlichen Darle-
gungen dürftig zu nennen. Immerhin hebt er wiederholt
die engen Beziehungen zwischen äußerm und innerm Wahr-
nehmen hervor. So sagt er, daß jeder Akt der äußern Em-
pfindung von dem Sichbewußtwerden durch den Innern Sinn
begleitet sei. Bei dieser Gelegenheit (2. Teil der Fra^e 78)
macht er die allgemeine, treffende Bemerkung, daß wir
vieles mit den äußern Sinnen wahrzunehmen meinen, was tat-
sächlich nur der innere Sinn, besonders das Gedächtnis, wahr-
nimmt. Das gilt in etwa von den Nachbildern. So meinen
wir beim Schwingen eines brennenden Holzscheites mit den
Augen einen feurigen Kreis wahrzunehmen, cum tamen visus
in nullo uno instanti videat illum circulum, sed solum unam
partem videt post aliam sie, quod nunquam duas simul;
sed interior sensus illum circulum apprehendit per memo-
riam retinentem praeterita et offerentem recenter acta et
Visa, quasi adhuc fiant et videantur. Dann fügt er verall-
gemeinernd bei: innumera etiam alia sunt, quae a solo sensu
interiori apprehenduntur vel aestimantur, quae tamen sen-
sibus ascribuntur particularibus propter intimitatem illius
cum istis. Sogar die Bedeutung der Assoziation und der
Gewöhnung für die Tiefenwahrnehmung, die erst die moderne
experimentelle Psychologie genau beschrieben hat, die aber
bereits Alhazen, Witelo und andere mittelalterliche Denker
96 10. Kapitel
im allgemeinen kannten '), findet sich bei Olivi angedeutet,
wenn er im obigen Zusammenhang schreibt: sie intime sentit
[sensus interior] eorum [sc. sensuum particularium] obiecta
in suis locis, quod multi proprii actus eins videntur esse
proprii actus sensuum particularium, sicut patet cum pic-
turae diversarum vestium et membroriim alicuius imaginis
videntur nobis varias densitates sibi invicem superpositas
habere, acsi colores imagines essent corpora spissa; quod
ideo nobis videtur, quia aestimatio sensus interioris sie pro-
bavit in hominibus, quorum sunt imagines illae.
Prinzipiell weiß Olivi auch die Bedeutung der Mathematik
ftlr die Optik zu würdigen 2). Wie Alhazen^), Grosseteste*)
und Bacon ^) kennt er die Pyramide oder den Strahlenkegel
(q. 73, 2. Teil). Weiterhin macht er zutreffende Bemer-
kungen über die Spiegelung oder Reflexion (Katoptrik) und
die Brechung (Dioptrik). Bei der Spiegelung ist der Einfalls-
winkel gleich dem Ausfallswinkel. Beim Übergang von einem
dünnen in ein dichteres Medium werden die virtuales partes
des Strahles zerstreut — es ist der moderne Gedanke der
verschiedenen Brechbarkeit der verschiedenen Farben — ,
deshalb erscheint der minimus visus im Wasser größer als
1) Baeuraker, Witelo, 630 ff. ; Bauer, Die Psychologie Alhazens,
S. 65; Fröbes, Aus der Vorgeschichte.
2) Vgl. Baur, Grosseteste, besonders S. 93 ff., Baur stellt dort
mit Herbeiziehung vieler Stollen einen lehrreichen Vergleich an zwi-
schen Grosseteste und Bacon, der bekanntlich so nachdrücklich die
Forderung mathematischen Denkens für die Erklärung der Natur-
vorgänge vertrat; vgl. auch Bauer, Die Psychologie Alhazens, S. 6 ff.
Daß die Scholastik mehr Verständnis für die ^Notwendigkeit des
mathematischen Verfahrens zeigte, als man bislang wußte, hat die
neuere Forschung bewiesen. Baumgartner hat in seiner vorzüglichen
Neubearbeitung des Ueberwegschen Grundrisses die Ergebnisse kurz
zusammengefaßt und auf die ersten Quellen und monographischen
Darstellungen verwiesen (vgl. besonders § 36 u.§43). Selbst die An-
wendung des Mos geometricus auf die Metaphysik verlangten im 12.
Jahrhundert nach dem Vorbild des Boethius Denker wie Alauns von
.Lille und Nicolaus von Amiens. (Ueberweg- Baumgartner, S. 326f.).
3) Vgl. Bauer, Die Psychologie Alhazens, S. 16, 23.
4) Baur, Grosseteste, S. 107 ff.
5) Commun. nat., I 5; De multiplicatione specierum V 3.
DaB Binnliche Erkennen 97
er ist, deshalb erscheint auch das Ruder, das halb im Wasser
ist, gebrochen. Umgekehrt werden beim Übergang in ein
dünneres Medium die virtuales partes gegen die Axe zu ge-
eint (q. 73, 1. Teil).
Es folgen im 2. Teil der Frage 73 eine Reihe von Bei-
spielen, die prinzipiell den Anteil des subjektiven Faktors
an den Wahrnehmungen dartun sollen. Wie die Texte
lauten, kann man sie naiv oder auch modern im Sinn der
heutigen Psychologie deuten ^). Es ist hier in psychologi-
scher Hinsicht ähnlich wie vorhin — vgl. den Anfang des
5. Kapitels — in erkenntnistheoretischer Hinsicht beim Be-
griff der Wahrheit, wo Naives und Kritisches unmittelbar
neben einander stehen. Nur ein fachmännisch geschulter
experimenteller Psychologe wäre imstande, den Wert und
die Wertlosigkeit der Sätze Olivis zu scheiden. Ich begnüge
mich deshalb damit, auf diese Stellen hinzuweisen: es mag
dann ein Fachmann an der Hand des bald erscheinenden
Textes die geschichtliche Bedeutung Olivis in diesem Lehr-
punkt herausarbeiten.
Endlich möge in diesem Kapitel noch erwähnt werden,
daß im Zusammenhang mit dem Sehen beachtenswerte Be-
merkungen über den teleologischen Bau des Auges und
seiner einzelnen Teile gemacht werden. Sie sind offenbar
der Optik Alhazens^) entnommen. Dabei wird die Einheit
des binokular wahrgenommenen Objektes so erklärt: nervi
sensitiv! habent radicalem unitatem in sua origine, puta,
circa cerebrum et etiam in corde ; et hinc est, quod potentia
visiva radicaliter figitur in una radice duorum nervorum ad
duos oculos protensoriim^).
1) So urteilt mein Kollege P.Jos. Fröbes, dem ich auch an dieser
Stelle für mannigfache Angaben aus seinem Spezialgebiet, der ex-
perimentellen Psychologie, herzlich danke.
2) Vgl. Bauer, Die Psychologie Alhazens, S. 1 1 ff . ; Baeumker,
Witelo, S. 610 ff.
3) Vgl. Bauer, Die Psychologie Alhazens, 8. 31.
11. Kapitel.
Der Verlauf des geistigen Erkennens.
Es entspricht ganz der idealen, metaphysischen, in die
Tiefe gehenden Richtung des mittelalterlichen Denkers, wenn
er über den Vorgang des höheren Erkennens weit Ausführ-
licheres und Bedeutsameres zu sagen hat als über den des
sinnlichen.
Das alles beherrschende Zentralproblem bei der Dar-
stellung der Erkenntnispsychologie ist systematisch und ge-
schichtlich betrachtet die Frage : wie verhält sich das höhere
Erkennen in seinem Zustandekommen zur Erfahrung? Drei
Möglichkeiten sind a priori vorhanden und haben tatsächlich
in der Geschichte der Philosophie ihre Anwälte gefunden. Der
Apriorismus behauptet ein ursächlich vollständiges Unabhängig-
und Losgelöstsein von der Erfahrung, mag das nun ein
mehr oder minder Angeborensein im Sinne Piatons, Des-
cartes'. Spinozas oder Leibniz' oder ein unmittelbares Schauen
der geistigen Welt sein, wie es vor allem Augustinus und die
von ihm beeinflußten Denker, etwa die Ontologisten, an-
nehmen. In schroffem Gegensatz zu diesem Apriorismus
behauptet der Empirismus, der folgerichtig zu Ende geführt
im Sensualismus endet, alles Denken sei nichts weiter als
eine Verarbeitung, ein Trennen und Zusammenfügen von
Wahrnehmungselementen, derart daß der Verstand im we-
sentlichen nicht mehr in ihnen sieht als der Sinn. In der
Mitte zwischen diesen beiden extremen Auffassungen stehen
jene Theorien, die zum Zustandekommen eines geistigen
Denkaktes, zur Herausarbeitung eines Gedankendinges un-
bedingt einen sinnlichen und geistigen Faktor verlangen,
einerlei wie sie das Zusammenwirken beider im einzelnen
Der Verlauf des geistigen Erkennen»
durchführen. Nach ihnen beginnt alle Erkenntnis mit den
Sinnen „nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu'',
aber — und das bedeutet die schärfste Absage an den Em-
pirismus — der Verstand sieht in dem Yorstellungsbild
wesentlich Neues und Höheres als der Sinn, z. B. das
Dingsein, die Substantialität, die Beziehungen. Die reinste
Form dieses Mittelweges tritt uns in der Abstraktionslehre
des Aristoteles und der in seinen Bahnen wandelnden Hoch-
Scholastik, namentlich des hl. Thomas, entgegen. Auch Kant
ist hierhin zu zahlen, wenn er in jeder Erkenntnis den ge-
gebenen sinnlichen Eindruck und die apriorische Form oder
die Rezeptivität des Sinnes und die Spontaneität des Ver-
standes unterscheidet.
Zu welcher der drei Richtungen zählt nun Olivi? Wenn
er auch seiner Grundauffassung nach der mittleren anzu-
gehören scheint, so hat er doch starke Einwände gegen
die spezielle Form derselben, wie sie ihm in der Aristote-
lischen Abstraktionslehre entgegentrat, vorzubringen. Seine
eigene Theorie sodann vom Zusammenwirken von Sinn und
Verstand arbeitet er nicht systematisch bis in ihre letzten
Einzelheiten durch.
Unsere Darstellung hat demnach mit geschichtlicher
Treue zunächst die verschiedenen Seiten seiner zerstreuten
Angaben darzulegen und zuletzt diese verschiedenen Ge-
dankenmotive zur Einheit des Gesamtbildes synthetisch zu
verarbeiten. Diese genetische Methode gestattet dem Leser,
die Einzelstellen auf ihren Beweiswert und damit auch
die Grundthese auf ihre Richtigkeit nachzuprüfen. Unsere
Ausführungen werden also folgenden "Weg einschlagen:
zuerst ist der Nachweis zu fuhren, daß nach Olivi die
höhere Erkenntnis mit der Erfahrung beginnt oder sie wenig-
stens voraussetzt ; positiv geschieht das durch die Diskussion
der diesbezüglichen Stellen, negativ durch seine kritische
Auseinandersetzung mit der Augustinischen Einstrahlungs-
theorie. Darauf ist zu zeigen, daß und wie der Verstand
als eine spezifisch höhere oder geistige Seelenkraft mit Hilfe
des so gewonnenen Erfahrungsmaterials zur Erkenntnis des
Übersinnlichen vordringt; dabei wird negativ die Spezies-
100 11. Kapitel
lehre des Aristoteles und Thomas abgelehnt und positiv das
Motiv der Aristotelisch-thomistischen Abstraktionstheorie mit
dem Augustinischen Grundgedanken von einem unmittel-
baren Schauen geistiger Realitäten verknüpft. So sehen
wir, wie Olivi auch in diesem Einzelpunkt in ganz eigen-
artiger Weise Aristotelismus und Augustinismus ausgleicht ;
und so finden wir schließlich in seiner Erkenntnislehre die
allgemeinen Züge seiner Philosophie und seines Philosophie-
rens wieder. Wenn den Leser in der Wiedergabe der in
Frage stehenden Lehre Unklarheiten, Unausgeglichenheiten
und Lücken zu stören scheinen, so möge er für diesen Übel-
stand nicht bloß den Historiker, sondern auch Olivi selbst
verantwortlich machen, an dessen Materialien jener ge-
bunden ist.
Daß die höhere Erkenntnis von der Erfahrung ausgeht
oder sie doch voraussetzt, wird im Vaticanus nirgends ex
professo behandelt, aber gelegentlich ausgesprochen. So
heißt es im ersten Teil der q. 74: quia nullum sensibile et
praecipue quantitas et figura et situs non potest a nostro
intellectu intelligi aut cogitari. nisi per actum imaginationis
vel sensus communis sibi praesententur : idcirco memorialis
species ipsius intellectus non potest aliquod sensibile suffi-
cientei' intellectui repraesentare, nisi subnectatur et coas-
sistat ei actus imaginationis vel sensus communis. Unde
eti^m universales species sensibilium non potest eogitare
nisi cogitando aliquod particulare vagum vel signatum per
actum imaginationis vel sensus communis sibi praesentatum . . .,
unde potius abstrahitur, distinguendo rationem eins a ratio-
nibus individualibus sibi adiunctis quam separando ipsum
ab illis.
Im vierten Teil derselben Frage heißt es: anima non
potest novas [cognitiones] fingere seu formare nisi ex primis^
quas traxit a rebus expertis per earum actualem visionem
seu experientiam, prout dicit Augustinus XI De Trinitate
capitulo 10^) et in prima epistola ad ISTebridium^), ubi quae-
rens, unde venit ut quae non videmus cogitemus, respondet,
1) De Trinit., XII 10.
2) Epist.. das«*, l. ep. VII cap. 3 n. 6.
£V PL;.
ORONTO 6. CANADA,
Der Verlauf des geistigen Erkennens 101
quod anima habet vim addendi et minuendi speciebus me-
morialibus, quas per sensus accepit. Caeci vero nati nihil
de luce vel coloribus possunt proprie intelligere vel imagi-
nari, quia nullam primam speciem lucis et coloris per actus
sensuum acceperunt. Vocat autem addere, quod unum sen-
sibile sine altero sentitum iungimus simul, ut cum imagina-
mur montem aureum A^el corpus humanuni cum capite bovine
et sie de aliis . . ., minuere autem sumitur per modos con-
trarios, scilicet iuncta separando aut maiori quantitati partes
aliquas subtrahendo aut unum in plura dividendo . . . Huius-
modi autem compositiones vel divisiones primo sunt et fiunt
in acie cogitantis et varias species memoriae simul aspicientis
et conferehtis.
In q. 76, welche die Selbsterkenntnis der Seele behan-
delt, scheint Olivi bei nur oberflächlicher Lesung seiner
Ausführungen das Gegenteil zu sagen, er lehrt nämlich mit
Augustin ein unmittelbares, intuitives Erfassen der Seelen-
substanz. Tatsächlich wird auch in diesem Fall das allge-
meine Prinzip, daß alle Erkenntnis mit der Erfahrung be-
ginnt, gewahrt. Nur braucht es nicht notwendig die äußere
zu sein, es kann auch die innere im Sinn Lockes sein:
primus [modus se ipsam cognoscendi] est per modum
sensus experimentalis et quasi tactualis. Et hoc modo indu-
bitabiliter sentit se esse et vivere et cogitare et velle et
videre et audire et se movere corpus et sie de aliis actibus
suis, quorum seit et sentit se esse principium et subiectum.
Es ist die einfache Erfahrungstatsache, daß wir uns bei
allen psychischen Akten unsers Ich bewußt werden. Die
ganze Aufzählung will offenbar keine geordnete Reihe auf-
stellen, sondern nur zwanglos die einzelnen Seelentätigkeiten
registrieren. Der einleitende, ganz allgemein lautende Satz
„primus est per modum sensus experimentalis et quasi tac-
tualis" ist im Gegenteil ein neuer Beleg ftlr die Richtigkeit
der Behauptung, daß nach Olivi alle höhere Erkenntnis die
Erfahrung voraussetzt.
Weit entschiedener noch als im Vaticanus beginnt in
den beiden Borghese-Kodizes, ganz im Sinn und mit förm-
licher Berufung auf Aristoteles, alles Erkennen mit den Sinnen.
102 11. Kapitel
So heißt es in der Lösung der 12. Objektion der ersten
Frage: non solum per causam vel per effectum possumus
aliquid certitudinaliter scire, sed etiam per inductionem et
experientiam ; per hoc enim rationes primorum principiorum
accipimus, sicut dicit Aristoteles I. Ethicorum et in Posterio-
ribus suis^). Fügen wir die Andeutungen in der Lösung
der 23. Objektion hinzu, so haben wir eine förmliche, in sich
geschlossene Wissenschaftslehre more geometrico wie bei
Boethius, Mcolaus v. Amiens, Descartes und Spinoza: cer-
tificatio iudicii per aliquod obiectum fixum potest in nobis
esse eodem modo, quo de conclusionibus iudicamus per
principia prius a nobis cognita. Et sie oportet, quod omne
obiectum, quod de se non est certum, ex relatione ad aliud
obiectum, quod de se est certum, certitudinem accipiat.
Obiectum autem, quod de se est certum, sicut sunt prima
principia, non oportet, quod per aliud certificetur.
In der Lösung der 10. Objektion heißt es : speciem
quaestionis, si est et quid est et consimilium, formamus ex
iis, quae ex rebus apprehendimus, scilicet ex apprehensione
creati et aliarum conditionum realium.
Im Corpus der zweiten Frage wird sogar sehr genau
die Aristotelische Abstraktionslehre wiedergegeben und ver-
teidigt. Die Augustinische Erkenntnislehre, die Olivi rein
äußerlich hält, schränkt er darauf ein, daß sie nicht gegen
diö Tatsache verstoße, daß der Mensch nicht sine speciebus
creatis a rebus abstractis posset ab initio et absque doc-
trina intelligere . . . Etiam rationes generales entium non
possumus apprehendere sine apprehensione particularium
aut sine praevio usu sensuum et sine speciebus ab eis ab-
stractis.
Folgerichtig zu dieser positiven Ableitung der höheren
Erkenntnisse aus der Erfahrung wird negativ die Augusti-
nische Einstrahlungslehre völlig aufgegeben. Diese Preis-
gabe ist bei der treuen Gefolgschaft, die Olivi sonst seinem
hochverehrten Führer Augustin leistet, von großer Bedeu-
tung. Darum beriefen wir uns auf sie, als auf ein wichtiges
1) Eth., I 7, 1098b 3; Anal, post., II 19, 99b 3 sq.
Der Verlauf des geistigen Erkennens 103
inneres Kriterium der Einheit des Verfassers sowohl des
Vaticanus als der Borghese-Kodizes. Wie dort angedeutet
wurde, wird im Vaticanus der theologische Apriorismus des
hl. Augustin nur gelegentlich gestreift und abgelehnt. So
heißt es in q. 38, an angeli in primo instanti, quo meruerint,
fuerint glorificati : ulterias dicendum, quod beatus Augustinus
tamquam in parte sequens dogma Platonicum — eine gute
geschichtlich-kritische Bemerkung, genau wie bei Behandlung
der Augustinischen Emissionstheorie — credidit omnem in-
tellectum in actu intelligentiae immediate illustrari a luce
aeterna et immediate contueri aliquas aeternas regulas eius
ac deinde cetera in regulis illis . . . Nos autem — eine poin-
tiert scharfe Ablehnung — sequentes sententiam Dio-
nysii et etiam Scripturae sacrae . . . pro certo tenemus, quod
nullus angelus vidit facialiter Deum.
Auf die diplomatische Taktik der Borghese-Kodizes in
dieser Frage wurde in anderm Zusammenhang bereits hin-
gewiesen^). Mit offensichtlicher Entrüstung wird die Tho-
mistische Erklärung Augustins, die Olivi überaus getreu
wiedergibt und die freilich dem geschichtlichen Tatbestand
nicht gerecht wird, zurückgewiesen : modus autem, quo Au-
gustini dicta exponunt, etiam modicum iutelligenti faciliter
apparere potest, quia non sapit mentem Augustini ^j. Gleich
darauf beteuert der Verfasser äußerst autoritätsfürchtig,
Augustin in der Frage, an rationes aeternae sint nostro in-
tellectui ratio intelligendi ömnia et an lux increata irradiet
intellectum nostrum quadem speciali irradiatione in omni
actu intelligendi, folgen zu wollen: in prima autem, quam
sine errore magis sequi desidero, quia est magistrorum non
minus solemnium nee minus catholicorum, ut sine errore
possit sane intelligi, tria ex parte rationum aeternarum vi-
1) Siehe Kap. 2 S. 17 ff; Kap. 3 S. 28 f.
2) Zur Deutung der dunklen Augustinischen Brkenntnislehre
siehe Portalie im Dictionnaire de theologie catholique unter Augustin;
Joli. Hessen, Die Begründung der Erkenntnis nach dem hl. Augu-
stinus (Beiträge, XIX 2), 1916; derselbe, Die unmittelbare Grottes-
erkenntnis nach dem hl. Augustinus, Paderborn 1919; v. Hertling,
Augustinus-Zitate bei Thomas v. Aquin, S. 576 ff.
104 11. Kapitel
dentur mihi cavenda, scilicet circa modum informandi, circa
modum repraesentandi et circa modum cooperandi. Darnach
folgt eine weit ausholende Yermahnung: ex parte etiam
intellectus cavendum est, ut non auferatur sibi possibilitas
vere et certitudinaliter iudicandi et intelligendi.
Diese ganzen Ausführungen sind durchaus vom Aristo-
telisch-thomistischen Standpunkt aus gehalten und gehören
in ihrer kritischen Schärfe zu dem Besten der Scholastik.
In ihrer Ausführlichkeit und in ihrem Eoichtum an Motiven
bringen sie sogar viele neue Gesichtspunkte über Thomas
hinaus, dessen philosophische Eigenart sich im übrigen in
seiner Erkenntnislehre vielleicht am reinsten ausprägt^).
Interessant liest sich die Lösung der 22. Objektion der ersten
Frage: dicendum, quod illuminatione naturali Dens omnem
hominem illuminat dando sibi lumen intellectuale seu po-
tentiam intellectivam proponendo obieeta, ex quorum aspectu
et intelligentia sive Dei sive rerum illuminari potest ; neque
enim infantes aliter illuminat, cum tunc actu nihil intelligant.
Das sagt Olivi fast wörtlich wie Thomas 2), über dessen Ver-
gewaltigung der Augustinischen Texte er sich förmlich ent-
rüstet.
Nach Erledigung des ersten Punktes, daß nämlich das
geistige Erkennen auf das sinnliche folgt, ist zweitens zu
zeigen, daß und wie der Verstand als eine spezifisch gei-
stige Seelenkraft mit Hilfe des so gewonnenen Erfahrungs-
materials zur Erkenntnis des Übersinnlichen vordringt. Daß
der Verstand eine wesentlich höhere, eine immaterielle
Fähigkeit ist, wird überall in Olivis Ausführungen über die
Erkenntnis als selbstverständlich vorausgesetzt; in q. 52
aber, die von der Unsterblichkeit der Seele handelt, in q. 56,
die sogar die spezifische Einheit des menschlichen Geistes
mit den reinen Geistern behauptet, und in q. 67, die eigens
die Verschiedenheit des Verstandes von den sinnlichen Er-
kenntniskräften untersucht, wird dies in überzeugender
Weise dargetan. Daß sich weiterhin für Olivi das Ver-
1) Jansen, Die wissenschaftliche Eigenart des Aquinaten (Stimmen
der Zeit, 98 Bd. [19201 S. 453).
2) S. th., T q. 84 a. 5.
Der Verlauf des geistigen Erkennen» 105
standeserkennen nicht empiristisch im Sinn eines Locke,
Hume oder Condillac auf das weitere Verarbeiten, d. h.
Trennen und Zusammenstellen der Erfahrungselemente be-
schränkt, liegt dem mittelalterlichen, hochfliegenden Meta-
physiker und Spiritualisten so fern, daß eine solche Vor-
stellung ihm kaam hätte kommen können.
Weit dunkler dagegen ist in Olivis Darlegungen der
Übergang von der sinnlichen Erfahrung zum Übersinnlichen.
Zwischen der Auffassung der Borghese-Kodizes und der des
Vaticanus herrscht zudem keine Einstimmigkeit. Offenbar
ist jene die frühere, ganz an fremde Autorität sich anleh-
nende und diese die spätere, selbständige Auffassung, in
der freilich Augustinisch-aristotelische Motive weiter arbeiten.
Die ältere Theorie ist eindeutig bestimmt, wenn wir sagen,
sie sei vollständig Aristotelisch-thomistisch.
An dieser Stelle seien nur die Untersuchungen 'über den
Intellectus agens und possibilis und die wiederholte Beto-
nung der Species impressa hervorgehoben, da jene Unter-
scheidung im Vaticanus wegfällt, die Species aber durch
die Colligantia potentiarum ersetzt werden. Diese beiden
Punkte bedeuten die wesentlichste Abweichung des Vaticanus
von der älteren Auffassung in den Borghese-Kodizes. So
referiert Olivi hier beistimmend : ab omnibus ponentibus
species secundum viam Aristotelis ponitur, quod intellectus
constituitur in actu primo per huismodi species, ita quod
sine eis est tantam in potentia passiva respectu actus intel-
ligendi . . . Volunt, quod intellectus noster possibilis sine
speciebus seu rationibus intelligendi non possit intelligere
et quod per eas tamquam per formas suas exeat in actum
intelligendi.
Anders im Vaticanus. Freilich sind die Dinge hier ziem-
lich verwickelt und teilweise unklar. Die zwei wesentlichen
Punkte der hier vorgetragenen Theorie sind indes eindeutig
bestimmt. Einmal setzt, wie vorhin ausgeführt, die höhere
Erkenntnis die Erfahrung voraus, zweitens vermittelt den
Übergang von der Sinnes- zur Verstandeserkenntnis die
Colligantia potentiarum. Die Species impressa, ebenso wie
die Unterscheidung des Intellectus agens und possibilis
106 11. Kapitel
scheiden demnach aus; der Erkenntnisakt als Darstellung
des Sachverhaltes ist die Species oder Similitudo obiecti,
d. h. die Species expressa der Aristoteliker.
Dagegen wollen sich folgende Seiten nur schwer zu
einander fügen. Einmal wird die Aristotelische Erklä-
rung scharf bekämpft, in der 76. Frage über die Selbst-
erkenntnis der Seele wird sodann im Anschluß an Augu-
stinus und Anselm die unmittelbare Schau ihres Wesens
gelehrt : seit se per essentiam, id est, per aspectum et actum
in suam essentiam immediate defixum. Dazu bilden, sollte
man meinen, jene oben angeführten Stellen, wonach die all-
gemeinen Erkenntnisse aus den Sinnenbildern abstrahiert
werden, einen offenbaren Widerspruch, so heißt es z. B.
im vierten Teil der q. 74: aniraa non potest novas [cogni-
tiones] fingere seu formare nisi ex primis, quas traxit a
rebus es!^ertis per earum actualem visionem seu experi-
entiam.
Als Historiker haben wir diese Antinomie zunächst ge-
treu darzulegen, sodann aus ihren geschichtlichen und psy-
chologischen Voraussetzungen heraus begreiflich zu machen.
Die erste Aufgabe ist nach unsern bisherigen Ausfüh-
rungen teilweise bereits erledigt. Es bleibt noch übrig, den
Nachweis zu führen, daß Olivi im Vaticanus sich anders zur
Aristotelischen Erkenntnislehre stellt als in der früheren
Pe*riode der Borghese-Kodizes. Darnach hätte er also eine
Entwicklung zu größerer Selbständigkeit und Loslösung von
der Autorität des Stagiriten durchgemacht, ein wissenschaft-
licher Charakterzug, der sich harmouisch in das Gesamt-
bild dieses eigenartigen, originellen Scholastikers einfügt.
Sodann ist zu zeigen, daß er die vorhin dargelegte CoUi-
gantia-Theorie nun auch tatsächlich für die Entstehung des
höheren Erkennens dienstbar macht. Drittens ist im fol-
genden Kapitel die Selbsterkenntnis der Seele ausführlich
zu erörtern, das Ergebnis dieser Untersuchungen aber
einstweilen vorweg zu nehmen.
Die Aristotelische Erkenntnislehre wird zunächst in q. 72,
an Corpora in spiritum agere possint, im üblichen Conspec-
tus historicus ausführlich dargelegt und zwar unter dem
Der Verlauf des geistigen Erkennens 107
besondern Gesichtspunkt, daß die Körper durch Vermittlung
des Phantasma und des Intellectus agens auf den Inteilectus
possibilis einwirken können. Es ist eine getreue und genaue
Wiedergabe. Zu dieser Erklärung wird die Augustinische
in scharfen Gegensatz gestellt. Nach dieser geschichtlichen
Einleitung beginnt Olivi die systematische Darlegung des
eigenen Standpunktes mit den Worten: sustinendo igitur
hanc opinionem Augustini. Also gibt er die Aristotelische
Abstraktionstheorie preis, da sie mit der Augustinischen Auf-
fassung unvereinbar ist. In q. 74, an principium effectivum
actus cognitivi sit species repraesentativa obiecti aut habitus
aut potentia aut utrumque simul, wird ein sonderbares, aus
Wahrem und Falschem gemischtes Bild der Aristotelischen
Lehre gegeben, von dem sich unmittelbar anschließend die
Augustinische scharf abhebt. Wiederum beginnt das Corpus
quaestionis: id, in quo certius est locutus [sc. Augustinus],
pro meo modulo prosequens. Der Gegensatz zu Aristoteles
ist damit gegeben. In q. 58 bei Widerlegung der 13. Ob-
jektion wird die Theorie der Abstraktion des Geistigen aus
dem Sinnlichen direkt widerlegt ex parte irradiationis et
ex parte ipsius formae corporalis seu imaginariae et ex parte
potentiae intellectualis et sui actus. Somit dürfte dieser
Punkt genügend aufgehellt sein.
Daß der Übergang vom niederen zum höheren Erkennen
auf dem Wege der Colligantia erfolgt, wird in dieser prä-
zisen Formulierung nirgends gesagt, ergibt sich aber aus
dem ganzen Zusammenhang mit eindeutiger Klarheit. Der
ganze Abschnitt, in dem q. 72 — 76 stehen, handelt von der
Erkenntnis. Er trägt freilich die allgemeine Überschrift : de acti-
bus et habitibuspotentiarumanimae. tatsächlich aber werden
im Verlauf der Ausführungen vornehmlich die Akte und
Habitus des Erkennens behandelt ; zudem ist das höhere und
niedere Strebevermögen mit seinen Akten bereits vorher
eingehend behandelt worden, das höhere in qq. 57 — 59,
das niedere in qq. 68 — 70. Wenn also in q. 72 allgemein
gesagt wird: an corpora possint agere in spiritum, dann ist
es zunächst auf das Erkennen abgesehen, zumal es die
Grundlage aller geistigen Tätigkeit bildet. Nun wird aber
108 11. Kapitel
im ersten und zweiten Teil dieser Frage alle unmittel-
bare Einwirkung des Körperlichen auf Geistiges, insbeson-
dere auch die Irradiation der Phantasmata bekämpft, im
dritten Teil aber gezeigt, quomodo per viam naturalis colli-
gantiae possit aliquid fieri a corpore in animam. Nehmen
wir dazu die früheren Feststellungen, vor allem den Aus-
gang aller höheren Erkenntnis von der Erfahrung, so ergibt
sich die Wahrheit unserer Behauptung, daß den Übergang
vom sinnlichen zum höheren Erkennen die CoUigantia der
niederen und höheren Kräfte in der Materia spiritualis als
dem alles bewußte Geschehen verknüpfenden Band vermittelt.
— Daß die Spezies in q. 74 so entschieden abgelehnt werden,
daran muß der Vollständigkeit halber an dieser Stelle noch-
mals erinnert werden.
Wenn Olivi trotz alledem in den späteren Fragen des
Vaticanus die Abstraktionslehre wieder einführt, so geschieht
das nur nebenbei, wie verstohlen durch eine dunkle, fast
unbemerkbare Seitentür; der Ausgang aller Erkenntnis von
der Erfahrung wird nur nebenbei und ganz gelegentlich ge-
streift. Beide Punkte werden in q. 74 bei Behandlung einer
andern Frage berührt. Überdies wird dort die Abstrak-
tion aus dem Phantasma vielleicht auf das Erfassen allge-
meiner Erfahrungsbegriffe beschränkt, auf die Erkenntnis
positiv immaterieller Wesen und Vorgänge findet sie viel-
leicht keine Anwendung: nullum sensibile potest a nostro
intellectu intelligi aut cogitari, nisi per actum imaginationis
vel sensus communis sibi praesententur . . . Unde etiam
universales species sensibilium non potest cogitare nisi cogi-
tando aliquod particulare vagum vel signatum per actum
imaginationis vel sensus communis sibi praesentatum (q. 74
1. Teil). Nun fährt Olivi fort: nee mirum, quia nee aliquod
universale rerum intellectualium potest intelligere, nisi simul
cogitet aliquod particulare vagum vel signatum illius uni-
versalis, pro eo quod universale nihil reale ponit nisi in
particularibus suis. Unde potius abstrahitur distinguendo
rationem eins a rationibus individualibus sibi adiunctis quam
separando ipsum ab illis. Würde die Aristotelische Abstrak-
tionstheorie folgerichtig durchgeführt, so müßte man hier
Der Verlauf des geistigen Erkenn ens 109
statt „nisi simiil cogitet aliquod particulare illius univer-
valis" erwarten „nisi simul cogitet aliquod particulare sen-
ßibile'*. Nach Aristoteles i) ist nämlich alles Erkennen vom
Phantasma begleitet. Olivi fordert den Worten nach diese
Sinnenbilder nur für die Allgemeinbegriffe von Erfahrungs-
gegenständen. Damit stimmt überein, wenn er im 4. Teil
der q. 74 mit klarer Anspielung an Thomas^) das bekannte
Verbum mentis oder den abstrakten Begriff ablehnt, den der
Verstand nach dem Aquinaten zuerst bildet und in dem, wie
Olivi getreu berichtet, tamquam in speculo intelliguntur realia
[individua] obiecta. Diese Erklärung gestattet es ihm, zu
behaupten, daß wir die Allgemeinbegriffe rein geistiger
Wesen aus dem Einzelbegriff derselben abstrahieren und
darum für deren Herausarbeitung stets eines individuellen
Begriffsinhaltes benötigen. In dieser Annahme würden wir
zur Erkenntnis der positiv geistigen Welt nicht durch Ab-
straktion der sinnlichen gelangen, sondern sie unmittelbar
schauen, sie intuitiv erfassen. Diese Annahme würde sich
restlos in Olivis sonstigen Augustinismus einfügen, sie würde
vor allem den Einzelfall von dem unmittelbaren Schauen
der Seelensubstanz harmonisch in eine allgemeine Theorie ein-
fügen und endlich mit der uneingeschränkten Ablehnung
der Aristotelischen Abstraktionslehre logisch übereinstimmen.
Wie gesagt, möglich ist diese Beschränkung der Abstraktions-
lehre auf das Herausarbeiten bloßer Erfahrungsbegriffe, mit
Ausschluß der Erkenntnis positiv geistiger Gegenstände. Gibt
diese Annahme den geschichtlichen Tatbestand wieder, so
ließe sich damit nur schwer die ganz allgemein gehaltene
Behauptung in Einklang bringen : anima non potest novas
[cognitiones] fingere seu formare nisi ex primis, quas traxit
a rebus expertis per earum actualem visionem seu experien-
tiam. Höchstens müßte man die Experientia auf die äußere
Erfahrung beschränken und davon die innere ausnehmen,
wie tatsächlich in Frage 76 äußere und innere Erfahrung
im Sinne Lockes deutlich unterschieden wird. Dann wäre
der Abstand des Vaticanus von der älteren Borghese-Auf-
1) De anima, III 7, 431 a 17; III 8, 432 a 8.
2) S. th., I q.84 a. 7; q. 85 a. 1-3.
HO 11. Kapitel
fassung noch größer, denn nach dieser ist alles Erkennen
in echt mathematischer Weise letztlich auf durch sich selbst
einle achtende Prinzipien zurückzuführen, die ihrerseits aus
der Erfahrung abstrahiert sind.
Diese Darlegungen dürften ein anschauliches Bild
geben von dem Bingen Olivis um die Lösung eines der
schwierigsten, tiefsten und in der Geschichte der Philo-
sophie umstrittensten Probleme. Sie zeigen, daß er wie alle
großen Denker, namentlich ein Piaton, Aristoteles, Thomas,
Leibniz und Kant, zur Fragestellung in Anlehnung an die
Ergebnisse seiner Vorgänger, besonders des Aristoteles und
Augustinus, gelangt ist, daß er das Bedeutsame der früheren
Lösungen sich zuerst mehr rezeptiv zu eigen macht, um
dann schöpferisch aus deren Thesis und Antithesis eine
neue, selbständig ausgedachte Synthese zu gewinnen. Frei-
lich ergeht es ihm wie vielen andern, ihm überlegenen Gei-
stern, daß er kein einheitliches, widerspruchsfreies System
zu schaffen vermag: unausgeglichen bleiben manche von
Fremden herübergenommene Gedankenmotive neben ein-
ander bestehen. Steht auch Olivis Theorie der Bildung der
höheren Erkenntnis als Ganzes genommen bis jetzt als etwas
durchaus Eigenartiges da, so erweist sie sich doch in ihren
Einzelzügen, ja sogar ihrem formalen Grundcharakter nach
als echtes Kind ihrer Zeit. Wie wir im ersten Kapitel aus-
geführt habendi, ist der charakteristische Zug der Erkennt-
nislehre des dreizehnten Jahrhunderts das Bestreben, die
herrschende Augustinische und die neu eindringende Ari-
stotelische Auffassung mit einander in Einklang zu bringen.
Die Unterschiede in den einzelnen Aufstellungen sind durch
das Festhalten an der einen oder durch das fortschrittliche
Bekenntnis zur andern und im einzelnen durch das Mehr
oder Weniger Aristotelischer bezw. Augustinischer Elemente
bestimmt. Nur einer hat den Weitblick, die, Spannkraft,
die Folgerichtigkeit und den Mut, den Aristotelischen Ge-
danken sachlich restlos durchzuführen und ohne ihm irgend-
wie Abbruch zu tun, durch Platonisch-augustinische Motive
1) S. 3 ff.
Der Verlauf des geistigen Erkennens 111
ZU ergänzen und zum kühnen Abschluß zu bringen : der un-
übertroffene Systematiker Thomas v. Aquin, dessen philo-
sophiegeschichtliche Eigenart und spekulative Kraft gerade in
diesem Lehrstück am reinsten zum Ausdruck kommen dürfte.
Aber selbst dieser unbefangene, souveräne Geist zollt der
Methode seiner zu autoritätsfürchtigen Zeit seinen Tribut,
wenn er in der äußern Form und Darstellung die Position
des Augustinus mit geschichtlicher Treue wiederzugeben
behauptet.
So ist denn Olivis Haltung, sein Schwanken und Irren
in der Theorie von der Bildung der höheren Erkenntnisse,
die bei allem Schiefen, Halben und Unhaltbaren doch eine
bedeutsame spekulative, schöpferische Geisteskraft verrät,
dem geschichtlich denkenden Forscher aus seiner Zeit heraus
psychologisch und historisch wohl verständlich.
12. Kapitel.
Die Selbsterkenntnis der Seele,
Von spezielleren Fragen der höheren Erkenntnis kommt
vom Vaticanus für den Philosophen nur noch die q. 76
über die Selbsterkenntnis der Seele in betracht. Systema-
tisch und geschichtlich wäre die Ablehnung des Thomisti-
schen Verbum mentis und die daraus sich ergebende un-
mittelbare Erkenntnis des Individuellen von Bedeutung.
Bekanntlich lehrt der Aquinate in folgerichtiger Durchfüh-
rung Aristotelischer Andeutungen und Prinzipien, daß der
menschliche Geist zuerst das Allgemeine erkenne oder einen
universellen Begriff formiere und daß er erst nachträglich
durch Hinwenden zum konkreten Einzelbild des äußeren
Gegenstandes den Binzelbegriff desselben aus eben dieser
sionlichen Vorstellung abstrahiere. Dieser Lehrpunkt gehörte
zu den am meisten bekämpften Aufstellungen seines fort-
schrittlichen Aristotelismus ^). Olivi wendet sich getreu der
Augustinischen Richtung der älteren Pranziskanerschule,
z. B. des Correctoriums des Fr. W. de la Mare, im vierten
Teil der q. 74 dagegen : sciendum, quod quidam ponunt
quendam conceptura seu verbum per considerationem ab-
stractivam aut iuvestigativam seu adinveutivam formari, in
quo tamquam in speculo intelJigentur realia obiecta. Hoc
enim vocant primum intellectum et immediatum obiectum
et est quaedam intentio et conceptio et ratio rerum. Weil
aber Olivi für die Ablehnung dieses Verbum, ohne weitere
Diskussion, einfachhin auf seine Lectura super Johannem ver-
weist, die ebenso wenig wie seine andern spekulativen
1) Vgl. Kap. 1 S. 71.
Die Selbsterkenntnis der Seele 113
Schriften herausgegeben ist, so müssen wir uns ebenfalls
mit der Feststellung dieses Lehrpunktes begnügen.
Ausführlicher verbreitet er sich über die Selbster-
kenntnis der Seele. Bekanntlich stand diese Frage im Kampf
des Augustinismus mit dem Aristotelismus im Vordergrund
des Interesses ^). Olivi spielt darauf in der Überschrift deut-
lich an, wenn er beginnt : ex praedictis facile est videre,
quod a multis laboriose quaeritur et a quibusdam erronee
pertractatur. Für die Charakteristik seiner Erkenntnislehre
aber ist sie höchst bezeichnend und ergiebig. Die eigen-
artige Verquickung Augustinischer und Aristotelischer Ge-
dankenmotive, die in seiner Theorie der geistigen Erkenntnis
weiter arbeitete, ohne zu einer einheitlichen Synthese zu
gelangen, findet hier wie nirgend anderswo auf engem Raum
ihren bezeichnendsten Ausdruck.
Die Frage beginnt mit der bereits erwähnten Einfüh-
rung und fährt dann fort: quomodo anima sciat se ipsam^
an scilicet per speciem seu essentiam et an per immediatam
reflexionem sui aspectus super se aut primo dirigendo aspec-
tum ad phantasmata, id est, ad species imaginarias per actus
sensuum exteriorum acceptas. Man kann der Formulierung
gewiß nicht übermäßige Klarheit und Kürze vorwerfen.
Zuerst wird über die Aristotelische Ansicht per modum
obiectionis ziemlich allgemein und unbestimmt berichtet.
Daß sie weder ganz angenommen noch vollständig verworfen
werden soll, erhellt aus dem anschaulichen Bild, das zur
Darlegung des eigenen Standpunktes überleitet: ut igitur
ex praedictis faciliter videas veritatem, ipsam ab huiusmodi
erroribus quasi lucem a nebulis segregando, sciendum, quod
anima ^cit se vel potest scire duplici modo.
Die erste Art ist die Augustinische unmittelbare Schau
der Seelensubstanz 2), wie wir sie später bei Descartes
1) Siehe Kap. 1 S. 8.
2) DeTrin., X 10; Soliloq., II 1 ; De civit. Dei, XI, 26; vgl. M.
Grabmann, Die Grundgedanken des hl. Augustinus über Seele und
Gott, Köln 1916, S. 33ff. ; M. Baumgartner, Augustinus, in Große
Denker, herausgeg. v. E. v. Aster, Leipzig 1911, 1. Bd. S. 260ff. ; B.
Jansen, Das Zeitgemäße in Augustins Philosophie (Stimmen der Zeit,
98. Bd. (1919) S. 191 ff.).
8
114 12. Kapitel
in etwa wiederfinden ^). Im Anfang der Ausführungen wird
bloß das indirekte Erfassen der Seele in ihren Akten be-
tont. Es sind das Gedanken, wie sie Augustin wiederholt
ausführt, wenn er sich aus dem Zweifel zum sicheren Wissen
emporarbeitet, und wie sie in der Methode Descartes' in
seinem Cogito ergo sum wiederkehren. Hier stimmen die
Aristotelischen Scholastiker 2) mit ihrer Lehre von der Con-
scientia indirecta völlig mit Augustin überein; es ist eine
Erwägung, die auch in Kants Erkenntnistheorie, speziell in
seinen Ausführungen über die Transzendentale Einheit der Ap-
perzeption, wiederkehrt^). So heißt es auch bei Olivi: pri-
mus [modus] est per modura sensus experimentalis et quasi
tactualis. Et hoc modo indubitabiliter sentit se esse et vi-
vere et cogitare et volle et videre et audire et se movere
corpus et sie de aliis actibus suis, quorum seit et sentit se
esse principium et subiectum, et hoc in tantum, quod nullum
obiectum nullumque actum potest actualiter scire vel con-
siderare, quin semper ibi sciat et sentiat se esse suppositum
illius actus, quo seit et considerat illa. Unde et semper in
suo cogitatu format vim huius propositionis, scilicet: ego
scio vel opioor hoc vel ego dubito de hoc.
Im weiteren Verlauf der Darlegungen aber, nachdem
bereits die zweite schlußfolgernde Art der Selbsterkenntnis
dargelegt ist, entwickelt sich dieses indirekte Selbsterfassen
der Seele in ihren Akten zur höheren Augustinischen Schau
der Seelensubstanz und bedeutet damit eine scharfe Ab-
sage an die scholastischen Aristoteliker, z. B. an Thomas
v. Aquin. Cum ergo quaeritur, an anima sciat se per essen-
tiam . . ., si intendatur, quod sua essentia sit per se ob-
1) Discours de la ni6thode, 3. et. 4. partie ; Medit., l.u. 2. Medit.
2) Kleutgen, Die Philosophie der Vorzeit, Bd. 1 S. 167 ff.; Posch-
Frick, Institutiones Logicae et Ontologicae, p. 417 sqq.; Alf ons Lehmen-
Peter Beck, Lehrbuch der Philosophie, I. Bd., 4. Aufl., Freihurg Br.
1917, S. 168 ff.
3) Kritik der Reinen Vernunft, Analytik 1 Buch 2. Hauptstück
(Berliner Ausgabe 1904, 3. Bd. S. 107 ff.) ; vgl. Jansen, Kants Lehre
von der Einheit des Bewußtseins (Philos. Jahrbuch, 32 Bd. (1919) S.
341—354; Fr. Sladeczek, Kants Lehre vom Bewußtsein (Phil. Jahr-
buch, 26. Bd. (1913) tS. 491).
Die Selbsterkenntnis der Seele 115
iectum suae scientiae, ita quod non obiciatur sibi per ioter-
mediam speciem memorialem, sie in primo modo sciendi
seit se per essentiam, id est, per aspectum et actum in
snam essentiam immediate defixum. Dieses unmittelbare
Schauen der Seelensubstanz kommt noch deutlicher in fol-
genden Stellen zum Ausdruck, wo Augustin und Anselm
zitiert werden : in primo modo sciendi exiguntur tria, primum
est praesentia obiecti, quod est ipsa mens, secundum est
aspectus sui intellectus super se ipsam reflexus seu con-
versus, tertium est ipse actus sciendi. Genau so hatte Olivi
die unmittelbare Erkenntnis sinnlicher Gegenstände erklärt,
also stellt er die Unmittelbarkeit der Seelenerkenntnis mit
jener auf gleiche Stufe. Es folgen zwei lange Stellen aus
Augustin De Trinitate IX, 11, 12 und Anselm Monologium
cap. 33.
Die zweite Art der Selbsterkenntnis vollzieht sich im
Gegensatz zur ersten unmittelbaren auf dem Weg des schluß-
folgernden Denkens: secundus modus se sciendi est per
ratiocinationem. Dem würde Aristoteles zustimmen. Um
aber seinen ganzen Gegensatz zu ihm möglichst scharf her-
vorzuheben, fährt Olivi fort: ista autem ratiocinatio nequa-
quam incipit a speciebus imaginariis, nisi cum est falsa et
bestialis . . ., incipit ergo primo ab iis, quae per primum
modum sciendi . . . de se novit et tenet, puta, quod ipsa est
res Viva et principium et subiectum omnium actuum prae-
dictorum. Diese Stelle und die ganze Art der Erklärung
nötigt zu der Annahme, daß die Erkenntnis der geistigen
Seele gemäß dem primus modus nicht durch Abstraktion
aus den sinnlichen Vorstellungsbildern gewonnen wird, son-
dern ein unmittelbares Schauen ist; bestätigt wird diese
Erklärung durch die gleich anzuführenden weiteren Erläute-
rungen.
Diese auf dem ersten Weg gewonnene Erkenntnis der
Seele bildet nun die reale Grundlage für die Bestimmung
ihrer weiteren Eigenschaften. Olivi faßt sie bündig und
richtig in dem Ausdruck „Unkörperlichkeit* zusammen. Ex
hoc autem . . . arguit [anima] se transcendere omne corpo-
reum. Quia tamen ad hoc recte et perspicaciter arguendum
116 12. Kapitel
oportet se scire defectivam naturam praedictorum corporuin
et corporalium et sublimem naturam praedictorum actuum
animae ac deinde comparare sublimes perfectiones praedic-
torum actuum ac defectivam naturam corporalium: ideo
oportet animam prius investigare naturam corporum et prae-
dictorum actuum. Et quia ad sciendas naturas corporum sunt
nobis necessarii actus exteriorum sensuum et imagines tam-
quam nuntii exteriora intellectui nuntiantes et praesentantes :
ideo pro tanto sensus et imaginatio sunt necessarii ad hunc
secundum modum sciendi, quid sit anima.
In diesen letzten Worten wird nun die Notwendigkeit,
gerade aus den Akten das Wesen und die geistigen Eigen-
schaften der Seele zu erschließen, so stark betont, daß tat-
sächlich die vorgebliche, auf dem ersten Weg durch Au-
gustinische Schau gewonnene Kenntnis, die doch die Grund-
lage für die Schlußfolgerungen der zweiten Art bilden sollte,
völlig ausgeschaltet wird. So münden denn auch hier in
höchst charakteristischer Weise Augustinische und Aristo-
telische Erkenntniselemente friedlich und doch unversöhnt
ineinander. Die Darlegungen Olivis über die Erkenntnis
der Seelensubstanz haben daher etwas Schillerndes, Unaus-
geglichenes und Unfertiges.
13. Kapitel.
Abschließende Würdigung.
Ein zusammenfassender Eüekbliek hat drei Fragen zu
beantworten: erstens, welches ist die sachliche, spekulative
Bedeutung und der "Wahrheitswert der Ausführungen Olivis?
Zweitens, welches sind seine Quellen und wie stellt er sich
zu ihnen? Drittens, welches ist die geschichtliche, befruch-
tende Wirkung seiner Erkenntnislehre?
Olivi verrät in seiner Erkenntnislehre ebenso wie in
seinen andern Ausführungen ^) trotz aller Entgleisungen eine
hervorragend philosophisch-spekulative, schöpferische Denk-
kraft; er ist ein ganz bedeutender Metaphysiker, der sich
im Transzendenten, im Platonischen Mundus intelligibilis
heimisch fühlt. Kelativ zu dieser abstrakten, unanschau-
lichen und begrifflichen Art hat er sich noch ein gutes Stück
Wirklichkeitssinn und einen offenen Blick für die Erfahrungs-
welt bewahrt, wenngleich ihm wiederum manche apriorische
Voreingenommenheiten die volle Unbefangenheit für die Er-
kläruDg der nüchternsten und einfachsten Tatsachen nehmen.
Das ist ein Schicksal, das Olivi mit vielen andern Denkern,
einem Piaton, Spinoza, Kant und Hegel teilt.
Eine weitere Gegensätzlichkeit scheidet darum auch
Bleibendes und Bedeutsames, ewig Gültiges und Wahres
von Minderwertigem, Falschem und Schiefem. Zur ersten
Reihe zählt zunächst der Begriff der Wahrheit als ein
intentionales Erfassen, ein abbildendes Darstellen und
subjektives Erfülltsein von einem wirklichen Gegenstand,,
1) Jansen, Olivis Lehre über das Yerhältnis von Leib u. Seele;
derselbe, Ein neuzeitlicher Anwalt der menschlichen Freiheit.
118 13. Kapitel
einem objektiven Sachverhalt. Bedeutsam ist auch der
Grundgedanke der CoUigantia potentiarum und der Versuch,
mit ihrer Hilfe den dunklen, geheimnisreichen Übergang
vom sinnlichen zum geistigen Erkennen zu erklären. Über-
aus scharfsinnig ist vreiterhin die Widerlegung der Augusti-
nischen Erleuchtungstheorie, in der Olivi sogar an die klas-
sischen Ausführungen des Thomas v. Aquin heranreicht.
Umgekehrt steht seine Leugnung des Einflusses des
Objektes auf die Erkenntnisfähigkeiten nicht bloß in schreien-
dem Gegensatz zur tagtäglichen Beobachtung, zum gesunden
Menschenverstand und zu den Erfahrungswissenschaften,
sondern seine positive Erklärung der Causalitas terminativa
ist sogar ein offenbarer Widerspruch. Eher ist schon zu be-
greifen seine irrtümliche Behauptung von der virtualis pro-
tensio der Erkenntniskräfte zum Objekt, die tatsächlich einer
Fernwirkung gleichkommt.
Wahrheit und Irrtum, kritischer Scharfsinn und Befan-
genheit durch die Autorität sind in gleicher Weise gemischt
in seiner Bekämpfung der Spezies, d. h. der Form, wie
sie von manchen Scholastikern dargelegt wurden. Auch die
Betonung der Sinneserkenntnis für die Bildung von Erfah-
rungsbegriffen und die Heranziehung eines verhältnismäßig
reichen Beobachtungsmaterials für philosophische Deduktionen
wird durch die Loslösnng der Erkenntnis der geistigen Welt
von der Erfahrung beeinträchtigt. Diese Loslösung und die
damit behauptete unmittelbare Schau übersinnlicher Wesen
ist aber zu untergeordneter Natur, als daß sie Olivis kräf-
tiges Eintreten für die Möglichkeit der Metaphysik und das
intellektuelle Erfassen geistiger Werte und übersinnlicher
Wirklichkeiten in ihrer philosophiegeschichtlichen Bedeutung
irgendwie herabdrücken könnte.
Was den zweiten Punkt betrifft, so verrät Olivi eine
umfassende Quellenkunde. Seinen Augustin beherrscht
er einfachhin. Anders ist es mit Aristoteles. Er weiß viele
Stellen herbeizubringen und doch zieht sich durch seine
Erkenntnislehre wie durch andere Partien seiner Philosophie
ein merkwürdiger Zwiespalt hindurch: in manchen Ausfüh-
rungen gibt er den Geist des Stagiriten klar und treffend
Abschließende Würdigung 119
wieder, in andern dagegen entstellt er ihn völlig; so auch
in der Erkenntnislehre. In bezug auf andere Thesen, z. B.
über die Ewigkeit der Schöpfung (q. 5) und das Wirken
Gottes (q. 6) konnte ich nachweisen, daß er die Aristotelische
Lehre nicht aus den ersten, ungetrübten Quellen schöpfte,
sondern sie in neuplatonischer Färbung vorfand. Eine be-
friedigende Erklärung dieser teils richtigen teils falschen
Wiedergabe der Aristotelischen Lehre vermag ich noch nicht
zu geben. Daß Olivi die Perspectiva Arabum treffend ver-
wertet hat, wurde schon mehrmals erwähnt. Mannigfache
neuplatonische Anschauungen, wie die vom Ausstrahlen
eines geistigen Lichtes, die Kontroversen zwischen Natur-
philosophen und Mathematikern über Emission und Spe-
zies beim Sehen, spiegeln sich deutlich in seinen historischen
Einleitungen wieder. Im Zusammenhang mit Augustin zitiert
er wiederholt hier wie auch sonst Anselm, dessen treuen,
pietätvollen Erklärer.
Weit bedeutsamer als all diese Quellenkunde ist Olivis
überaus genaue und feinsinnige Kenntnis des philosophischen
Milieus seiner Zeit. Natürlich zitiert er entsprechend dem
unpersönlichen Zug der Scholastik keine Namen von Zeit-
genossen. Indes verrät er ein so feines Einfühlen in den
Geist der damaligen Schulen, Kämpfe und Strömungen, zeigt
er eine solche Belesenheit, daß ich hier wiederhole, was
ich anderswo ausgesprochen habe, daß seine Schriften für
den Forscher des dreizehnten Jahrhunderts ein fruchtbares
Feld reicher Ausbeute sein dürften. Freilich wird eine
genaue Kenntnis des philosophischen Geisteslebens jener
Zeit vorausgesetzt, um die geschichtliche Tragweite gele-
gentlich hingeworfener Bemerkungen, temperamentvoller Aus-
lassungen, unpersönlich gehaltener Aufzählungen und der
Charakteristik verschiedener Denkrichtungen ermessen zu
können.
Um sodann die Stellungnahme Olivis zu seinen Vorlagen
nicht bloß feststellen, sondern auch wertend beurteilen zu
können, muß man ihn wie billig aus seiner Zeit heraus er-
klären und darum zuerst das Verhalten der Scholastik zur
philosophischen Autorität ins Auge fassen. Sie bedeutet
120 13. Kapitel
für den mittelalterlichen Denker unvergleichlich mehr als
für den neuzeitlichen: willig ordnete er sich ihr unter, nur
ungern wich er von ihr ab. Dieser Zug hing, wie Baeumker
ausführt ^), einmal mit der Rezeptivität jenes Jugendzeit-
alters der christlichen Wissenschaft, sodann mit der Bedeu-
tung der Tradition und, fügen wir hinzu, mit der Pflege der
Theologie in jener Zeit zusammen, für die die Autorität die
eigentliche Beweisquelle bildet. Natürlich fallen aus diesem
Rahmen manche vorwiegend selbständige und kritische
Denker in mehrfacher Beziehung heraus.
Zu diesen muß Olivi wie in andern Lehrpunkten so
auch in der Erkenntnislehre gerechnet werden. Daß er sich
gegenüber Aristoteles und den Aristotelikern seiner Zeit
seine Unabhängigkeit bewahrt hat, bedarf keines weiteren
Nachweises. Es genügt, sein Verhalten gegen Augustin zu
beleuchten, um an diesem typischen Beispiel seine Stellung-
nahme zur philosophischen Autorität schlechthin zu kenn-
zeichnen. Augustinus ist ja sein eigentlicher Führer, zu dem
er ehrerbietig aufschaut. Zunächst muß hier zwischen der
konventionellen Form und dem sachlichen Inhalt unter-
schieden werden. Daß Olivi auch dann, wenn er die Au-
gustinischen Bahnen verläßt, seinen Lesern klar zu machen
sucht, er gebe den Gedanken seines Lehrers getreu wieder,
empfindet er ebenso wenig wie ein Thomas v. Aquin und
andfere Scholastiker als eine Unwahrheit oder Unaufrichtig-
keit. Es genüge die Feststellung dieser psychologisch merk-
würdigen Tatsache, auf ihre Erklärung kann hier nicht ein-
gegangen werden. Um so mehr muß auffallen, daß er
trotzdem die Augustinische Lehre von der Sinneserkenntnis
wiederholt in aller Form bekämpft. Das allein schon ver-
stößt gegen die Gewohnheiten jener Zeit.
In bezug auf den Inhalt seiner Lehre folgt Olivi in
vielen Grundauffassungen dem hl. Augustin, mit ausdrücklicher
Berufung auf ihn und mit reichem literarischen Apparat:
so in der Leugnung des Einflusses des Körperlichen auf
Geistiges, in der Ablehnung der immateriellen Spezies, in
1) Die christliche Philosophie des Mittelalters, S. 339 ff.
Abschließende Würdigung 121
der Behauptung der unmittelbaren Schau des Geistigen, in
der intuitiven Erkenntnis der Seele, in der Aktivität der
Seelenfähigkeiten. Diese Seite ist ebenso charakteristisch
für seine Eigenart wie die andere : in andern bedeutenden
Lehrstücken weicht er von ihm ab, so vor allem in der Illu-
minationstheorie, in der Erklärung der Sinneserkenntnis, in
der Leugnung der realen Einwirkung des Objektes auf das
erkennende Subjekt. In andern Punkten führt er Augusti-
nische Gedankenmotive, wie er selbst hervorhebt, kräftig
und entschieden weiter, so besonders in der Colligantia po-
tentiarum und in der Erkenntnis der Seele durch schluß-
folgerndes Denken.
Über die tatsächliche Wirkung drittens, die von Olivis
Erkenntnislehre ausgegangen ist, lassen sich einstweilen nur
mehr oder minder wahrscheinliche Vermutungen aufstellen.
So bedeutend Olivis Spekulation auch ist und so mannig-
fache Berührungspunkte er auch mit spätem Denkern hat,
so dürfte er doch wenig wirksamen Einfluß auf sie ausge-
übt haben. Der Grund dieser Erscheinung ist höchst ein-
fach: als leidenschaftlicher Führer der Spiritualen, die eine
gefährliche, verwirrende Partei im Franziskanerorden be-
deutete und später in den Fratizellen in eine förmliche
Irrlehre ausartete, war er dem berechtigten Argwohn, stän-
diger, scharfer Bewachung und strengster Ordenszensur aus-
gesetzt. Nach seinem Tode setzte erst recht ein heftiger,
teilweise ungerechter Kampf gegen seine Person und seine
Schriften ein, die schließlich zur Einziehung und Verbren-
nung der letzteren und zur Verurteilung seiner Irrlehre auf
dem Vienner Konzil (1312) führte. Damit war auch sein
wissenschaftlicher Name in den Augen des gläubigen Mittel-
alters gebrandmarkt.
Trotzdem hat die Colligantia-Theorie weiter gewirkt. Petrus
de Trabibus und Suarez folgten ihr, Scotus erwähnt sie bereits.
Wenn die Erforschung der mittelalterlichen Philosophie im
selben Maße voranschreitet, wenn sie vor allem monogra-
phisch so weiter arbeitet wie in den letzten Jahrzehnten,
so ist nach der bevorstehenden Veröffentlichung der philo-
sophischen Schriften Olivis zu hoffen, daß noch mancherlei
122 13. Kapitel
Yerbindungslinien aufgedeckt werden, die von Olivi zu spä-
teren Scholastikern hinüberführen. Zu diesen dürfte die
Beziehung Olivis zur späteren Franziskanerschule und be-
sonders zu Scotus zählen. Auch bei Olivi ist nach unsern
Ausführungen jene Annäherung vom Augustinismus zum
Aristotelismus zu bemerken, die verschiedenen Jüngern Mit-
gliedern der altern Pranziskanerschule, wie Richard v. Middle-
town und Petrus Anglicus, eigentümlich ist und die von
Alexander v. Haies und Bonaventura» zu Scotus hinführt.
Vor allem aber bliebe zu untersuchen, ob nicht die Leug-
nung der Spezies bei Olivi auf die verwandten Lehren der
Nominalisten im vierzehnten Jahrhundert eingewirkt hat^).
1) Die vom Verfasser dieser Arbeit vorbereitete Yeröffentlichung
der Opera philosophica Olivis, deren Druck dank dem hochherzigen
Entgegenkommen der Franziskaner in Quaracchi rüstig voranschreitet,
■wird die Möglichkeit bieten, seine philosophiegeschichtliche Stellung
und Bedeutung klar herauszuarbeiten.
Nachtrag zu Seite 30 Anmerkung:
Durch die Güte des P. Franz Pelster erhielt ich nachträglich
folgende ivertvolle Mitteilung, die keinen Zweifel mehr übrig läßt,
daß Olivi und Petrus de Trabibus zwei verschiedene Personen sind.
Jacobus de Trisantis.
Florenz Naz. ConV. Soppressi F. 3. 606.
Lectura fratris Jacobi super sentencias.
Der Kodex ist in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ge-
Bchrieben. Bei der Erklärung des ersten Buches zitiert Jacobus den
Petrus de Trabibus neunmal: f. lO^b, 16^^, 24^», 29va, 33rbj 35 vb, 57vb,
58^», 82rb, bei der Erklärung des zweiten Buches sechsmal: 91 v», 92^»,
93^», 97^b, 125rb, l54va.
Personenverzeichnis.
Abu Ishäk al Bitrüschi 14.
Aegidius v. Rom 76.
Alanus v. Lille 96.
Albert d. Große 5, 6, 14, 35, 38.
Alexander v. Haies 11, 36, 122.
Alfäräbi 38.
Alhazen 6, 12, 14, 68, 73, 94, 95,
96, 97.
Anselm 4, 8, 12, 43, 44, 45,94, 106.
Apollinaris 76.
Aquasparta 8, 20, 27, 51 f., 54, 64, 68.
Aristoteles 2 ff., 7, 11 f., 14, 16, 18f.,
20, 21 f., 27 f., 31, 35, 37, 38, 45,
46, 51, 53, 67, 72, 77, 83, 91, 99,
100, 102, 105, 106 ff., 109, 110,
112, 118 f., 120.
Augustinus 1 ff., 8, 11, 16 f., 18 f.,
21 ff., 27, 28 f., 30, 31, 33, 34, 35,
37 f., 39, 40, 43, 45, 50, 53, 54,
55, 56. 57 f., 67, 72, 83, 93 f., 98,
99, 101, 102 ff., 106, 107, 110, 113ff.,
118, 120f.
Aureolus 8, 42, 64, 67, 68.
Averroes 12, 14, 20, 38.
Avicenna 12, 14, 38.
Bacon Boger 2, 5, 6, 7, 13, 14, 16,
20, 38, 68, 73, 91, 95, 96, 97.
Baconthorp 57.
Baeumker 2, 3, 6, 7, 13, 14, 15, 16, 32,
41, 48, 51, 56, 64, 68, 72, 96, 97, 120.
Balthasar 17 f.
Bann wart 10.
Barach 38.
Bartholomaeus Anglicus 13, 73.
Bauer 7, 68, 96, 97.
Baumgartner 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 13,
14, 35, 38, 41, 43, 51, 56, 57, 59 f.,
83, 96, 113.
Baur 6, 7, 41, 68, 73, 94, 96.
Beck 114.
Bernheim 30.
Biel 56.
Boethius 96, 102.
Bonaventura 2, 4, 6, 11, 27, 35, 36,
53, 68, 122.
Bonifaz VIII. 17.
Caietan 76.
Capreolus 76.
Chatelain 3, 19.
Coelestin V. 17.
Compton 86.
Condillac 105.
Daniels 8, 27.
Deniflo 3, 19.
Denzinger 10.
Descartes 33, 39, 41, 54, 98, 102, 114.
Dietrich v. Freiberg 7, 14, 73.
Dreiling 3, 41, 64, 67.
Dürr 91.
Duhem 14.
Durandus 8, 42, 56, 57, 64, 68, 76.
Dionysius-Pseudo 6, 15.
Eberle 27.
Ehrle 1, 2, 4, 10 f., 18, 26, 27, 29, 84.
Eisler 1.
124
FersonenTerzeichnis
Endres 38.
Eriugena 13.
Feder 30.
Felder 73.
Ferrarius 76.
Fidelis a Fanna 11, 26.
Fischer 4, 8, 41, 43, 44, 45.
Franz v. Assisi 10.
Frick 65, 91, 114.
Fröbes 7, 91, 96, 97.
Galen 56.
Gaul 2, 5, 6.
Geulincx 54.
Geyser, 7, 23, 41, 43, 91.
Gloßner 7.
Gottfried t. Fontaines 2.
Grabmann 4, 5, 6, 8, 27, 41, 43, 51 f.,
54, 64, 68, 76, 87, 113.
Gregor v. T^yssa 56.
Gregor v. Rimini 8.
Grosseteste 6, 7, 68, 73, 94, 96.
Guttmann 44.
V. Hartmann 42, 91.
Hegel 117.
Heinrich v. Gent 5, 8, 35, 57, 64,
67, 68 f.
Heinrichs 49.
Hergenröther 10.
T. Hertling 2, 4, 28, 103.
Hessen 103.
Höver 2, 32.
Honecker 43, 91.
Horten 38.
Hugo V. St. Victor 12, 59.
Hume 3, 105.
Husserl 23, 43.
Jacobus Trisanto 30, 84, 122.
Jandunus 76.
Javellus 76.
Isaac Israeli 44.
Isaac T^arbonensis 76.
Kant, 13, 41, 49, 51, 72, 99, 110,
114. 117.
Keicher 5.
Kirsch 10.
Kleutgen 8, 41, 43, 48, 77, 114.
Krebs 7.
Kugler 41, 64.
Lappe 3, 41.
Lehmen 114.
Leibniz 47, 51, 53 f., 98, 110.
Liebert 43.
Locke 101, 105, 109.
Longwell 68.
Lotze 43.
Lutz 4, 32.
Malebranche 54.
Mandonnet 2, 3, 5, 19, 48.
Martin 4.
Michael Scottus 14.
Minges 8, 27, 35.
Nazarius 86.
Nicolaus V. Amiens 96, 102.
JS^icolaus V. Autrecourt 3.
Occam 3, 8, 42, 56, 64, 67, 68.
Öliger 17.
Palmieri 90.
Pecham4,7, 13, 20,35 f., 43, 44,73,95.
Pesch 65, 91, 114.
Petrus Anglicus 122.
Petrus Lombardus 59.
Petrus Peregrinus 14.
Petrus de Reblaio 26.
Petrus de Trabibus 27 f., 29 f.,
84 ff., 121, 122.
Philoponus 14.
Piaton 2, 4, 5, 6, 13, 22, 33, 38, 43,
56, 58, 98, HO, 117.
Plotin 13, 56, 58.
Porphyrius 56, 58.
Portaliö 103.
Prado 86.
Proclus 15.
Renan 4 f.
Richard v. Middletown 8, 27 f.^
35, 122.
Personenverzeichnis
125
Risner 6, 73.
Boger Marston 8, 27.
Bousselot 41.
RubiuB 86.
Sbaralea 10, 30, 84.
Scheler 51.
Schneider 2, 5, 6, 14, 38.
Schopenhauer 76.
Scoraille 87.
Scotus 2, 5, 8, 16, 17, 23, 27, 36,
52 f., 57 f., 60 f., 86, 121, 122.
Seneca 56.
Sentroul 49.
Siebeck 32, 38.
Silvester Maurus 86.
Sladeczek 114.
Spettmann7, 13, 20, 32, 35 f., 41, 44.
Spinoza 13, 98, 102, 117.
Stöckl 35, 59, 64.
Suarez 35, 37, 48, 53, 56, 57, 58,
64, 76, 86 ff., 121.
Tellez 87.
Templer 3, 19.
Thomas v. Aquin 2, 3, 5, 7, 8, 12,
14, 16, 19, 23, 25, 28 f., 30, 35,
38, 44, 48, 53, 65, 67, 76, 77, 84,
89, 100, 104, 109, 110 f., 112, 114,
118, 120.
Tongiorgi 90.
Ueberweg 1, 2, 3, 4, 5, 6, 13, 14,
56. 57, 96.
Urraburu 86 f.
Vogl 68.
Wadding 10, 30, 84.
Werner 8, 32, 87.
Wilhelm v. Auvergne 4, 8, 35, 51,
57, 59 f., 82 f.
Wilhelm de la Mare 2, 7, 8, 12,
19, 25, 35, 112.
Wilhelm v. Moerbeke 14.
Wilhelm v. Ware 27.
Witelo 6, 7, 14, 64, 68, 73, 95.
Würschmidt 7.
Würsdörfer 8.
de Wulf 1, 4, 8, 57, 64, 67, 68 f.
Zeller 48.
Zigliara 11, 26.
Zisch6 2.
Druck von Paul Rost & Co., Bonn.
^y PLACE
CAN'AOA,
sa^i